Nun ist sie wieder angebrochen, diese Zeit im Jahreslauf, in der die unglaublichsten Geschichten glaubhaft werden. Vielleicht nur deshalb, weil man sie glauben möchte. Weil dieser Glaube die Menschen wärmend ummantelt. Der Glaube daran, dass die Tage bald wieder länger werden, der Glaube an einen Gott - oder mehrere -, der Glaube an Liebe, familiäre und freundschaftliche Verbundenheit. Und der Glaube an Wunder.
Nicht nur wir Menschen sehnen uns nach Licht und Wärme. Tiere ziehen tagsüber aus den Wäldern auf die Felder, suchen die Strahlen der Wintersonne und finden sich in Gruppen zusammen.
Das Wunderwesen, dessen Geschichte hier erzählt werden soll, ist weder Mensch noch Tier, aber in jedem Fall weiblich. Schon seine Rundungen sprechen dafür. Dabei ist es klein. Für gewöhnlich fristet es sein Dasein als eine unter vielen mehr oder weniger Gleichen. Im Sommer in der Erde, im Herbst und Winter in kalten, dunklen Kellern oder Hallen.
Wen wundert es, dass das Wesen vor Kummer über die fortwährende Kälte und Dunkelheit in eine Depression zu fallen drohte, als es schon vor dem ersten Advent häufig Nachtfrost gab und die Minustemperaturen den Dezember fest im Griff hatten.
Unter dem Druck ihrer zahlreichen Nachbarn und der eigenen Gedanken entwichen ihm - besser gesagt: ihr - zunehmend die Lebenssäfte, und kurz bevor sie endgültig zu vertrocknen drohte, verengten sich ihre Augen zu einem Tunnelblick. Sahen einen grubenartigen Gang. Schon wieder kein Licht. Die Verzweiflung wollte sie erdrücken, die Dunkelheit ihr den letzten Lebensmut nehmen. Da blitzte im gefühlt allerletzten Moment und ganz am Ende der langen Gasse ein Licht auf. Ihre Lebensgeister wollten sich daran klammern und spornten sie an, sich zu bewegen. Erst ging es nur langsam weiter, dann schneller und noch ein bisschen schneller, ein Purzelbaum unterbrach die Schrittfolge, die sie immer zügiger vorantrieb, ein Salto, ein letzter Sprung und die Weihnachtskartoffel landete in einem Raum, der so hell war, dass ihre Augen schmerzten.
Nur mühsam gewöhnte sie sich an das Licht. Die Wärme hier war ebenso neu und fremd. Während sie der Helligkeit noch misstraute, ließ sie sich von den ungewohnten Temperaturen bedingungslos liebkosen. Die warnenden Hinweise aus ihrem Unterbewusstsein, dass es Hitzegrade gäbe, die einer Kartoffel Schaden zufügen konnten, schickte sie in die Dunkelheit zurück. Sie sah sich um. Der Raum glänzte in Lack und Chrom und Glas, in nahezu allen Flächen konnte sie sich spiegeln. Sie schickte der Warnung einen letzten Gruß hinterher, das sähe alles so kalt aus, dass es ihr hier bestimmt nicht zu warm werden würde.
Bedienelemente unterbrachen riesige Auszüge und milchverglaste Schranktüren. Die Weihnachtskartoffel hatte keine Idee, wozu Heißluftofen und Induktionsherde vorgesehen waren, und das war vielleicht ganz gut so. Sie wagte einen Sprung über die Auszüge hinaus und landete auf einer Granitfläche. Hier fand sie neben einer weiteren Gerätschaft ein Netz mit - ihr Herz hüpfte vor Freude - noch mehr Kartoffeln. Gerade wollte sie sich vorstellen, wie es die Kartoffeletikette vorschrieb, als sich Schritte näherten. Nicht solche, wie der Bauer sie mit seinen derben Arbeitsschuhen auf dem Acker hinterließ, schwer und vom Boden gedämpft. Dies waren leichte, klare und laute Schritte. Die Weihnachtskartoffel blickte auf die Schuhe. Sie hatten mit den Kloben des Bauern so viel gemeinsam hatten, wie der Feldboden mit den Hochglanzfliesen hier. Sie ließ den Blick über schmale Fesseln und schlanke Beine weiter hinaufgleiten. Eine Frau! Das schloss sie jedenfalls aus den Rundungen um die Hüften und aus den Wölbungen in der Bluse, aus deren offenstehenden Kragen ein zierlicher Hals zu erkennen war und darüber ein ebenes Gesicht. Man musste zweimal hinsehen, um die Schönheit der Frau zu erkennen. Rund um eines ihrer Augen war die Haut geschwollen und eine dicke Puderschicht vermochte die roten und blauen Stellen nicht zu verbergen. Ihr Blick war ein einziger Schrei.
Krachend ertönte ein mattschwarzes Gerät neben der Weihnachtskartoffel, nachdem die Schöne einen Knopf dort gedrückt hatte, es brodelte und dampfte und dann sprudelte eine dunkelbraune Flüssigkeit aus einem verchromten Rohr in eine weiße, dickwandige Tasse. Die Frau griff danach, pustete über den Espresso und trank ihn noch dampfend. Sie stellte das Gefäß achtlos ab und entdeckte die Kartoffel. Für einen Moment hielt sie inne. Betrachtete die im Netz gefangenen Kartoffeln und den Neuling, nahm sie sanft in ihre schmale Hand, drehte und wendete sie ungläubig und legte sie dann zurück.
Die Weihnachtskartoffel vernahm ein Geräusch aus einem anderen Raum. Hatte die Frau es auch gehört? Zuckte sie deswegen kaum merklich zusammen, bevor sie ihr Spiegelbild in einer der Glastüren überprüfte und mit ihren Händen ihre Bluse glattstrich?
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