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Der Widerspenstigen Zähmung (Teil 1)

Finde dich mit uns in einem Theater ein. Auf der einen Bühne geben die Schauspieler »Der Widerspenstigen Zähmung« von Shakespeare. Eine sehr spezielle Inszenierung. Auf der anderen Bühne beginnt das Publikum zu spielen. Und immer mehr verschwimmt dabei die Grenze zwischen beiden Bühnen.

Eine BDSM-Geschichte von Schattenzeilen und Jona Mondlicht und Schattenwölfin und ungewiss und Margaux Navara und Traum der Nacht und Lucia und dreambizarre und Pourquoi pas.

Folge: Dieser Text ist Teil einer Reihe.

Urheberrecht: Eine Veröffentlichung, Vervielfältigung oder Verwendung darf nur nach Zustimmung durch Schattenzeilen und Jona Mondlicht und Schattenwölfin und ungewiss und Margaux Navara und Traum der Nacht und Lucia und dreambizarre und Pourquoi pas erfolgen! Mehr dazu ...

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Vorwort

Zwei Tage intensive Schreibarbeit in Hessisch-Sibirien. Acht Teilnehmer der Schattenzeilen-Schreibwerkstatt mit rauchenden Köpfen entwickeln unterschiedliche Figuren, die sich anschließend in einem Theater einfinden. Auf der einen Bühne geben die Schauspieler »Der Widerspenstigen Zähmung« von Shakespeare. Eine sehr spezielle Inszenierung. Auf der anderen Bühne spielen die entwickelten Figuren und die Grenze zwischen beiden Bühnen verschwimmt.

Dank einiger weniger Vorgaben, sitzen alle auf burgunderfarbenen Plüschsesseln, sodass der Leser diesen mehrfach begegnet. Dank schöpferischer Freiheit im Übrigen ist aber auf diesen Sitzmöbeln Platz für unterschiedliche Typen, Fantasien und Schreibstile.

Schaut selbst, wie es Euch gefällt.

 

***

 

»Hallo Frieda, es ist soweit, ich werde mich halb acht mit Herrn Marek treffen. Ich sende dir dann gleich ein kurzes Okay und ein zweites um Mitternacht, wie abgesprochen. Danke dir für den Freundschaftsdienst! Wünsch mir Glück!«

Esther hatte am frühen Abend mit fahrigen Händen die SMS in ihr Handy getippt. Ihre beste Freundin und Vertraute würde ihr Sicherheitsnetz sein, sollte es komisch werden.

Schon seit einem halben Jahr war Esther im Internet auf dieser besonderen Seite unterwegs. Die dunklen erotischen Fantasien hatten sie schon seit Längerem angezogen wie das Licht die Motten. Allmählich hatte sie sich herangetastet. Im realen Leben stand sie mit beiden Beinen fest im Leben, hatte sich ihr eigenes Kosmetikstudio aufgebaut. Dass sie mit ihrer lebenslustigen Art schnell einen tragfähigen Kundenstamm angezogen hatte, war ihr leider nicht sehr hilfreich in der Beziehungspflege. So war sie mit Vierzig in ihrem Freundeskreis die einzig Ungebundene. Dass ihre spät entdeckten Neigungen dabei eine Rolle spielten, war auch möglich. Schwelen tat es schon lange in ihr.

Der heutige Abend stellte ein kleines Wagnis dar, auf das sie sich eingelassen hatte. Herr Franz Marek war ihr schon am Anfang im Chat begegnet und durch seine gewählte Ausdrucksweise aufgefallen. Dass er ihr aufmerksam zuhörte, ihre Gefühle und Anfragen ernst nahm, hob ihn schon zeitig von den anderen Chatteilnehmern ab. Vor zwei Wochen machte er nun den Vorschlag zu dieser Theatervorstellung der besonderen Art. Der Gedanke, Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung« in einem BDSM-Kontext zu sehen und dabei selbst eventuell ein Spiel zu wagen, war sehr reizvoll für Esther. Dabei Franz Marek, oder wie sie ihn nennen sollte: Herrn Marek, nun real kennenzulernen, war eine gute Gelegenheit.

Beschrieben hatte er sich als Dom in den Fünfzigern, mittelgroß mit grauen, kurzen Haaren, sportlich und doch nicht ganz schlank. Er wollte an diesem Abend im Smoking mit Fliege erscheinen und als Erkennungsmerkmal ein grünes Tuch in die Brusttasche stecken.

Von ihr hatte er explizit eine schwarze Lackkorsage und dazu passend einen Minirock verlangt. Halterlose, ohne Frage, und Lackstiefel bis über das Knie sollten auch sein. Ob sie ohne Slip erschien, hatte er ihr freigestellt.

Ganz aufgeregt stand sie vor dem Theatereingang, mit dem Handy in der Hand, als ihr von hinten eine volltönende Bassstimme mit den Worten: »Es freut mich, Sie zu sehen, Esther!« eine wohlige Gänsehaut über den Rücken schickte.

Die schnelle Drehung auf den Absätzen setzte ihre Fliehkraft in ihrem Gehirn fort und schwungvoll landete sie in Halt gebenden Armen.

»Guten Abend, Herr Marek!«, kam es etwas atemlos von ihr. 

»Richtig, der bin ich. Kommen Sie, wir wollen die Vorstellung nicht verpassen, lassen Sie uns reingehen!«

»Oh, Moment bitte, ich möchte mich noch schnell bei einer Freundin melden!«

»Natürlich, selbstverständlich!«

Diese Geste des Verstehens ließ ihn auf Esthers Sympathieskala noch weiter nach oben klettern. Ein Stück entspannter nahm sie anschließend den dargebotenen Arm und ließ sich von Herrn Marek ins Foyer geleiten.

»Eine außergewöhnliche Farbe, diese roten Haare, aber wirklich hübsch an Ihnen, Esther. Und ein herausragendes Erkennungszeichen«, äußerte Herr Marek.

»Danke!« Esther neigte etwas verschämt den Kopf.

*

Nina sah der Frau mit dem auffälligen roten Haar nach, die am Arm des distinguierten Herrn im Theater verschwand. Doch sie war selbst viel zu nervös, um sie richtig wahrzunehmen. In ihrem Magen flatterten unzählige Schmetterlinge. Unruhig blickte sie immer wieder auf ihre Uhr. Sie wartete vor dem Theater, in dem es heute Abend diese ganz besonders bizarre Vorstellung gab.

Wo blieben ihre Männer denn nur? Und wie würden Sie aufeinander reagieren? Die Männer ihres Lebens kannten sich nicht, wussten aber voneinander. Der eine war ihr langjähriger Ehemann, mit dem sie Freud und Leid teilte, aber leider schon länger nicht mehr das Bett. Der andere war ihr Top, der ausdrücklich keinen Alltag mit ihr wünschte. Nur noch 20 Minuten bis zum Beginn der Vorstellung - hoffentlich kniff keiner von beiden. Nina wurde immer unruhiger. Sorgenvoll schritt sie in ihren schwindelerregend hohen Plateau-High-Heels und einem, ihre sportlich-elegante Erscheinung betonenden, dunklen Trenchcoat vor dem Eingang auf und ab. Unter dem dünnen Sommermantel trug sie ein kurzes und ärmelloses Lackkleid. Ein locker gebundenes Halstuch verdeckte das filigrane Edelstahlhalsband, welches sie als äußeres Zeichen ihres Herrn um den Hals trug.

Erst vor Kurzem hatte sie, eher zufällig, ihre devote Neigung entdeckt. Zuerst war es ihr wie ein Verrat an der Frauenbewegung vorgekommen und stürzte sie in tiefe Verwirrung, denn eigentlich war sie alltagsdominant und managte ihre vierköpfige Familie. Viele beneideten sie um ihr Leben an der Seite eines liebevollen Mannes und zweier wohlgeratener Kinder, doch je selbstständiger die Kinder wurden und ihre Pflichten schrumpften, desto mehr bemerkte sie, dass in ihrem Leben etwas Entscheidendes zu fehlen schien. Devotion war es, und seit sie es mit ihrem Top lebte, den sie auf einem einschlägigen Portal kennen und lieben gelernt hatte, war sie viel befreiter und zufriedener. Sie hatte versucht, ihren Mann auf ihre Reise in die mysteriöse Welt aus Dominanz und Unterwerfung mitzunehmen, doch er verweigerte sich komplett. Ihm war das ganze Thema suspekt, und er konnte sich nicht vorstellen, der geliebten Frau Schmerz zuzufügen. Er verstand auch nicht, warum und weshalb sie dies brauchte, wollte und sogar erregend fand.

Zähneknirschend hatte er ihren Top anerkannt, das Spiel der beiden akzeptiert und widerstrebend zur Kenntnis genommen, dass er nicht mehr der Einzige war, mit dem sie nun verkehrte. Jedes Mal, wenn er ihr strahlendes Gesicht sah, wenn sie von dem anderen kam, las sie Schmerz in seinem Blick, und es brach ihr das Herz, schmälerte ihr Vergnügen und ihre Lust. So ging das nicht weiter! Sie wollte und brauchte beide, beide ergänzten und bereicherten ihr Wesen, nährten und heilten ihre Seele. Deshalb hatte sie drei Karten für diese Vorstellung gekauft, sie erhoffte sich eine dauerhafte Verbindung mit ihren beiden Herzensmännern. Sie hatte keinen Plan B, falls ihr Ansinnen scheitern sollte. Sie war ein von Grund auf optimistischer Mensch, sie hoffte einfach, alles würde sich irgendwie stimmig in diesem sinnlichen Ambiente fügen.

Da - endlich, ihr Top traf ein, schwang sich elegant aus dem Taxi. Er trug einen Smoking eines italienischen Designers und sein weltmännisches Auftreten zog sofort nicht nur die bewunderten Blicke der anwesenden Damen, sondern auch die neidvollen der Herren auf sich. Mit einem stürmischen Kuss begrüßten sie sich, als sich jemand neben ihnen geräuschvoll räusperte - ihr Ehemann, lässig in schwarzer Lederhose und gleichfarbigem edlen Hemd gekleidet. Nina begrüßte ihn genauso herzlich und stellte beide vor. »Mathias - Leo, Leo - Mathias.« Beide Männer gaben sich leicht unterkühlt die Hand, nickten sich zu und einen Moment herrschte verlegenes Schweigen, bis man beschloss ins Innere zu gehen, um noch gemeinsam ein entspannendes Glas Sekt vor der Vorstellung  zu trinken.  

*

Der stadtbekannte und von den meisten Künstlern gefürchtete, ja gehasste Theaterkritiker Dr. Gernot Volkhardt schritt unterdessen beschwingt mit wehenden Mantelschößen durch das Foyer. Er freute sich auf den Abend. Nicht dass ihn das Stück interessierte, eine seichte Komödie, Shakespeares nicht würdig, seiner Meinung nach. Doch es wurde eine sogenannte BDSM-Version gespielt, was natürlich eine Menge einschlägigen Publikums anzog. Über Volkhardts Gesicht huschte ein spöttisches Lächeln, als er sich an der herausgeputzten Menge, die sich an der Kasse drängte, vorbeischob und schnurstracks auf die Garderobe zustrebte.

»Lämmer, alles Lämmer«, jubelten sich die Gedanken in seinem Kopf zu, » alles potenzielle Kandidaten für unser kleines Spiel.«

Die Garderobiere war jung, ausnehmend hübsch und dem Anlass entsprechend in ein sehr knappes und aufreizendes Gewand gekleidet.

»Guten Abend, gnädige Frau«, begrüßte Volkhardt die verblüfft Angestellte, und anstatt ihr seinen Mantel zu überreichen, nahm er ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Ich wusste nicht, dass dieses Theater so schlecht zahlt, dass die Darstellerinnen sich ein Zubrot mit diesen Arbeiten verdienen müssen.«

Volkhardt genoss die Verlegenheit der jungen Frau. Besser konnte dieser Abend gar nicht beginnen. Hinter ihm begann sich eine Schlange zu bilden, aber das interessierte ihn nicht. Immer noch hielt er die weiche Hand der Garderobiere in seiner, während sein Blick sie fixierte.

»Ich - äh - bin gar keine Schauspielerin, ich - ich bin Studentin, und ich werde ganz gut bezahlt «, mühte sich die junge Frau ihre Fassung wieder zu erlangen, während sie vorsichtig versuchte, ihre Hand zu befreien. »Darf ich bitte ihren Mantel haben?«

Volkhardt genoss noch für einen Moment die Verbindung zu ihr, gab dann die Hand frei und schälte sich aus dem Mantel. Die Garderobiere - Jenna war ihr Name - bemerkte, dass der Kragen des ehemals teuren Sakkos abgewetzt war, und dass auch der Stil nicht mehr der Mode der heutigen Tage entsprach. Was für ein merkwürdiger Herr, dachte sie.

»Werden Sie das Stück sehen? Praktizieren Sie auch dieses - BDSM?« unterbrach Volkhardt ihren Gedankenfluss.

Wieder konnte er sich an ihrer Verblüffung ergötzen. Hinter ihm murrte die Menge. Viel zu lange schon hielt er sich in deren Augen mit der Abgabe seines Mantels auf. Doch sie begriffen nichts, diese Laien. Das Stück spielte hier, das Theater war doch nur die Bühne. Volkhardt wartete nicht auf eine Antwort auf seine provokative Frage, sondern nahm Jenna wortlos die Marke aus der Hand und wanderte durch die Lobby zur Bar. Dort traf er auf einige ihm bekannte Figuren der sogenannten Künstlerszene der Stadt, die sich versammelt und wohl schon einige Rotwein geschluckt hatten. Ein französischer Maler, Patrice, war da, mit seiner aktuellen Freundin, einer etwas üppigen Blondine, die sich in ein Latexkorsett und einen langen Rock gezwängt hatte. Sie wurde Volkhardt später als Samantha vorgestellt. Patrice trug eine schwarze Lederhose und ein weißes Hemd, und Volkhardt konnte nicht anders als »so einfallslos wie seine Bilder« zu denken, während er die beiden freundlich begrüßte. Mit Patrice war Wassili gekommen, ein Russe, der angeblich auch Maler war, von dem Volkhardt aber noch nie ein Bild gesehen hatte. Wassili war komplett in schwarzen Samt gekleidet und sah noch melancholischer aus als sonst. Samantha hatte zwei ihrer Freundinnen mitgebracht, die sich etwas im Hintergrund hielten und sich sichtlich unwohl fühlten. Sie hatten das wohl Frivolste aus ihrem Kleiderschrank herausgeholt, was sie finden konnten, doch es hatte nicht zu mehr als einem kurzen schwarzen Kleidchen, Strümpfen und ein paar Stilettos gereicht.

Daneben ein paar Musiker vom Theaterorchester, ja sogar einer der Schauspieler war dabei, sowie die übliche Anzahl der jungen Frauen, die sich in diesem Kreise zu sonnen pflegten. Man plauderte über BDSM, über die Szene, gemeinsam besuchte Veranstaltungen und dergleichen. Volkhardt nahm diese ganze Gruppe wahr wie ein Schachspieler, den man zu einer gerade angespielten Partie gerufen hatte. Er schüttelte Hände und verteilte Küsschen, aber in seinem Hirn stellte er Figuren auf, dachte über mögliche Rollen in dem Spiel nach, das gleich gespielt werden sollte. Er war sich noch nicht klar, wo er den Hauptangriff führen würde. Kurz erwog er auch den hübschen Paradiesvogel in sein Spiel einzubeziehen, der ihm gegenüber in einer Nische stand. Doch schnell tat er sie als zu langweilig ab. Sie war zu bemüht, möglichst mit der Tapete zu verschmelzen, als dass er mit ihr hätte seinen Spaß haben können.

*

Shakespeare. Schon alleine der Klang des Namens weckte tausend Bilder in Bella. Kostüme. Perücken. Diese besondere Art des Umgangs miteinander, umständliche Formulierungen, Titel, Üppigkeit auch in der Sprache. »Der Widerspenstigen Zähmung« war eines ihre Lieblingsstücke, nein: das Lieblingsstück.

War es nicht das, was sie wollte? Von einem Mann gezähmt werden? Nicht wie der kleine Prinz und der Fuchs, sondern mit mehr Nachdruck, mit Kraft, vielleicht sogar mit roher Gewalt. Sie wollte nicht der schüchterne Fuchs sein, sondern ein ungezähmter Löwe. Nicht Maus, sondern Wildpferd. Dabei glich sie so sehr dem Fuchs. Getarnt, unauffällig, immer auf der Hut. Sie hatte noch nicht einmal dessen auffällige Farbe. Vielmehr war sie braun, mausbraun, nicht nur ihre Haare. Ihre Größe, diese ungewollte Statur, machte es ihr schwer, sich zu verstecken, doch irgendwie schaffte sie es, machte sich klein, machte sich unsichtbar. Nicht, dass sie das hätte ändern wollen. Es war besser, unsichtbar zu sein, als im Mittelpunkt zu stehen, denn jedes Mal, wenn sie jemandem auffiel, wenn jemand sie auserkor, endete es doch nur schlecht. Ihre drei bisherigen Freunde - oder was man so Freunde nennen konnte - erwiesen sich als die ultimativen Fehlentscheidungen. Sie wollten Geld, sie wollten Einfluss, sie wollten Verbindungen und waren nur so lange an der Freundschaft interessiert, bis sie genau das bekommen hatten.

Nein, keine solche Freundschaft mehr. Kein Ausnutzen mehr. Da blieb sie lieber inkognito. Doch heute würde sie zwar unerkannt bleiben, aber auffallen. Die Chance, vielleicht die einzige, die sie jemals haben würde. Ein Theaterstück mit BDSM-Hintergrund. Und sie würde dabei sein. Das Kleid hatte fantastisch ausgesehen, wie es da an ihrem Schrank hing. Die Maske, eine große Federmaske, funkelte im Licht, unzählige Strasssteinchen waren aufgenäht, sie sah darin wie ein Paradiesvogel aus. Wie es wohl wäre, angestarrt zu werden, ohne dass einer ahnte, welche Maus sich hinter der Maske versteckte? Wenn es möglich wäre, würde sie das Ding an sich festtackern, damit niemand es abziehen konnte, auch nicht aus Versehen.

*

Der Gong forderte das Publikum zum Platznehmen auf. Volkhardt begab sich mit der Gruppe zur angemieteten Loge. Er spürte, wie sich im Gehen Samantha an ihn drängte, konnte ihr schweres Parfüm unter der Eigennote des Latex riechen. Wie zufällig berührte er ihren Arm, was ihr einen Seufzer entlockte, doch er erlaubte ihr nicht, mit ihm zu sprechen. Allerdings sorgte er dafür, dass er in der Loge neben ihr saß - gleichzeitig aber auch so am Rand, dass er jederzeit freie Bahn für Aktivitäten außerhalb der Loge haben würde.

Das Spiel begann.

Vor ihm in der ersten Reihe der Loge nahmen gerade zwei Männer Platz, zu denen sich kurz darauf eine hübsche Frau in den besten Jahren gesellte. Nina setzte sich in die Mitte  zwischen ihre beiden Männer. Als was sie dabei im Folgenden dienen würde, ob als Prellblock, Grenze oder Lustobjekt, war ihr noch nicht wirklich klar.

*

Die Loge bot Platz für insgesamt acht Personen. Eine vordere und eine hintere Reihe mit je vier seitlich versetzten Plätzen. Der Blick in den sich langsam füllenden Zuschauerraum, über dem ein riesiger Kronleuchter zu schweben schien und diesen mit seinem warmen Licht erhellte, sowie auf die wunderbar sinnlichen Kulissen war atemberaubend. Ansprechende Outfits der Gäste rundeten das opulente Bild ab. Ninas Herz pochte wie ein Bohrhammer. Als sie kurz vor dem Betreten der Loge von der Toilette zurückgekommen war, fand sie ihre beiden Männer in einem konzentrierten Gespräch vor. Irgendwie wirkten beide plötzlich wie Verschwörer und nicht mehr wie Kontrahenten.

*

Direkt unter der Loge strich Bernd gerade vorsichtig über die Tapete im Zuschauerraum. »Rote Seidentapete«, dachte er. So etwas kannte er bislang nur aus Erotikfilmen. Zwei, drei hatte er als DVD gekauft, ein Vielfaches auf dem Computer. Heute Abend wollte er seine Sammlung mit Eindrücken ergänzen. In unmittelbarer Begegnung. Er schaute nach links und rechts, fühlte sich unbeobachtet und legte eine Hand flach auf die Wand. Zart fühlte es sich an. Aufregend.

Als er die Eintrittskarte für die Veranstaltung gekauft hatte, war er nicht sicher gewesen, ob er es nicht bereuen würde. Shakespeare verband er bislang nur mit Kultur. So etwas lag ihm nicht. Zu anstrengend. Dass es eine BDSM-Version sein sollte, hatte es dagegen interessant gemacht. BDSM. Das verband er mit gefesselten und willigen Frauen, oder wenigstens mit ersterem, mit Unterwürfigkeit und Aufblicken zu ihm. Er würde sich das ganze Kennenlernen sparen können, so als Dom, dachte er. Keine endlosen Treffen mit Small Talk, bevor es endlich zur Sache gehen würde. Hier, so glaubte er, war das Sammelbecken für Frauen, die auf ihn warteten. Auf den Dom, der die Richtung vorgab, so gut situiert war wie er und Fraulichkeit anzufassen wusste. Immerhin, er war Teil des gehobenen Managements einer Firma, hatte mit seiner kleinen Mietwohnung kaum Ausgaben und nach Feierabend mehr Zeit zur Verfügung, als ihm lieb war. Aber das sollte sich nun ändern.

Er schaute auf seine Karte. Sitzreihe acht. Mit den Fingern zählte er ab. Und dann ging er los. Absichtlich hatte er gewartet, bis die meisten Plätze belegt waren. Nicht, weil er sich gern die Knie stieß. Sondern weil er, der sich stehend an Sitzenden vorbeischieben musste, die bessere Position hatte. Die Frauen hier trugen Korsetts und weit ausgeschnittene Kleidung. Man musste da auch mal mitdenken. Er hatte die Eintrittskarte schließlich bezahlt. Außerdem war die aufrechte Position seine, das wusste man doch.

Schließlich erreichte er das Ende der Reihe burgunderfarbener Plüschsessel. Der Platz ganz außen gehörte ihm. Sicher, er hätte auch vorn an der Bühne vorbeigehen können. Die war aber ohne Einblicke. Der Vorhang war noch geschlossen und ruhte auf dem Bühnenboden aus dunkel geschliffenem Holz.

»Wegen mir kann es losgehen, oder, Kleines?« Bernd überflutete die Reihe mit lautem Lachen und schaute auf die junge Frau herab, die direkt neben ihm saß. Blickte ihr von oben auf die Brüste, die in einem schwarzen Nylonkorsett lagen. Schwungvoll ließ er sich in den Sessel fallen, und als sein Arm die Lehne suchte, legte er sich nahtlos an den Schenkel der Frau. Als sie zu ihm herübersah, bediente sich Bernd eines seiner Gewinnerlächeln. »Nicht mal Armlehnen haben sie«, sagte er und tat entrüstet. »Zum ersten Mal hier?«

Ohne Antwort wandte sie sich ab und tuschelte zur anderen Seite. Vielleicht war es ihre Freundin, mit der sie hier war. Gut, dachte Bernd und stellte sich vor, dass er es auch mit zwei Frauen aufnehmen könnte. Aneinandergebunden. Schade nur, dass er es seinen Kollegen nie würde erzählen können. Sie hatten immer Witze über BDSM gemacht. Er hatte sich selbstverständlich stets daran beteiligt, aber seitdem er sich überlegt hatte, ein Dom zu sein, hielt er sich genießerisch zurück. Ein bisschen neidisch beobachtete er einen älteren Herrn, der souverän eine junge Frau mit feuerrotem Haar durch den Saal begleitete.

*

»Kommen sie, unsere Plätze sind dort vor der Bühne rechts«, sagte Franz Marek. Esther ließ sich durch den Zuschauerraum führen und bewunderte dabei wie Bernd wenige Minuten zuvor ebenfalls die rote Seidentapete an den Wänden. Weiße Stuckarbeiten mit goldenen Ranken bildeten den Abschluss zu der hohen Decke mit den großen Kronleuchtern.

Rechts vor der Bühne schob ihr Herr Marek einen der einladenden Sessel zurecht und Esther versank dankbar darin. Die aufregende Situation hatte ihre Beine in Pudding verwandelt.

»Ich werde Ihnen dieses Halsband umlegen.« Mit einem leisen Klick schloss sich kühles Metall um ihren Hals. »Damit kann auch unser kleines Spiel beginnen, während vor uns auf der Bühne eine klassische Zähmung stattfindet!«

Die sanften Männerhände an Esthers Hals strichen ihr das nackenlange Haar zurück an seinen Platz.

»Ihr Safewort, Sie erinnern sich? Ich möchte es zur Sicherheit vor Beginn noch einmal aus ihrem Mund hören!«, forderte er.

»William, wie William Shakespeares«, gab Esther zurück.

»Sehr gut, reichen Sie mir nun ihre Hände hinter den Sessel!« Die leise befehlende Stimme ließ sie sich wohlig schütteln, und sie legte die Hände hinter der Lehne ineinander, was ohne die Armstützen problemlos möglich war.

Herr Marek setzte sich nun schräg hinter sie und machte sich an ihren Händen zu schaffen, während die Lichter langsam dunkler wurden und den Fokus der Zuschauer auf die Bühne lenkte.

Mit gebundenen Händen und klopfendem Herzen wandte sie sich nun dem Geschehen auf der Bühne zu und ließ sich vertrauensvoll auf dieses Abenteuer, dieses Doppelspiel, ein.

*

Währenddessen ließ sich Kriminalhauptkommissar Sebastian von Brych eher genervt in einen der Plüschsessel fallen. Derartiges Interieur hatte ihm zu seinem Glück an diesem Abend noch gefehlt. Im Laufe des Tages hatte er wieder und wieder bereut, dass er sich beim letzten Heimspiel und nach dem vierten Stadionbier von seinem Kollegen Kunz zu diesem Theaterbesuch hatte überreden lassen.

Von Brych hasste öffentliche Veranstaltungen. Wozu auf Konzerte gehen? Der Klang seiner Stereoanlage brachte ihm die Musik in sein Wohnzimmer, wo er sie auf dem Ledersofa liegend genießen und vor allem die Musik aussuchen konnte, die zu seiner jeweiligen Stimmung passte. Ob Hélène Grimaud am Klavier, martialische Klänge von Rammstein, Miles Davis oder Maria Callas, ob Sinfonie, Livekonzerte von den Toten Hosen oder Chansons - allein sein Geschmack entschied, was er hörte. Theaterbesuche waren ihm meist ein Ärgernis. Die Bühnenbilder stülpten sich hartnäckig über die Bilder, die von Brych sich beim Lesen der Stücke gemacht hatte, waren karg oder überschlugen sich vor Eindruck schindenden Elementen. Auch den Klassikern widmete er sich lieber auf seinem Sofa mit seinen Bildern vor dem inneren Auge und einem Glas Rotwein.

Nun saß er hier, verfluchte die Bierseligkeit beim Stadionbesuch und seinen Kollegen; weil all das einfacher war, als über sich selbst zu fluchen. Schon das schlüpfrige Lächeln, mit dem Kunz ihn darauf hingewiesen hatte, dass es sich um eine sehr spezielle Inszenierung von Shakespeares »Der Widerspenstigen Zähmung« handelte, hätte ihm Warnung sein müssen.

»Eine BDSM-Variante, verstehste? Nicht so ein Larifari-Reinraus-Sex, sondern richtige Action«, wurde das Stück beworben, was von Brych nur mit der Bemerkung quittierte, dass er auch nicht erwartet habe, Kunz sähe sich sonst Shakespeare an.

Der war bislang aber noch nicht einmal erschienen. Über eine halbe Stunde hatte von Brych im Foyer verbracht und sich - die schmalen Lippen zusammenkneifend - die übrigen Besucher angesehen. Offensichtlich war die Inszenierung ein Szene-Magnet, denn das Publikum trug eindeutige Kleidung. Oder eindeutig wenig Kleidung. Die Herren erschienen durchgängig uniformiert mit ihren schwarzen Jeans und Shirts oder in dunklen Anzügen. Ausgerechnet. Von Brych verließ das Haus - wenn er nicht zum Sport ging oder ins Stadion - stets in einem dunklen Anzug mit weißem Hemd dazu und einer Krawatte, die so schlampig gebunden war, dass er im Präsidium den Spitznamen Columbo hatte. Nun war er hier und passte besser her, als ihm lieb war.

Zugegeben, die ein oder andere Frau sah sehr sexy aus. Latex umschloss weibliche Rundungen wie eine zweite Haut. Leder verströmte einen angenehmen Geruch. Ohne störende Parfumnoten hätte er sich beinahe wie zu Hause fühlen können, dachte von Brych, verbittert beim Gedanken an sein Ledersofa. Dort würde er es sich mit seiner alten Reclamausgabe von »Der Widerspenstigen Zähmung« bequem machen können. Stattdessen sah er sich umgeben von Menschen, deren Neigungen ihm zutiefst suspekt waren. Von Brych rang mit sich, was BDSM betraf, egal ob es um die derben Schmerzen ging, die hier teilweise ausgeteilt und eingesteckt wurden, oder um die Spiele mit Dominanz und Unterwerfung. Bei aller Toleranz gegenüber Andersdenkenden und

-lebenden stieß er hier an eine Grenze, seit er vor einigen Jahren bei seinen Ermittlungen mit dieser Szene in Berührung gekommen war. Seinerzeit war ein Mann während einer Session bei einer professionellen Domina tödlich verunglückt. Die Ermittlungen waren damals schnell eingestellt worden, weil es sich tatsächlich um ein Unglück ohne strafrechtliche Relevanz gehandelt hatte.

Von Brych hatte das Thema aber noch weiter beschäftigt, weil er - wie immer - versuchen wollte, dieses komplexe Feld zu erfassen. Er verkannte, dass ein wirkliches Verstehen ohne ein entsprechendes Fühlen nicht möglich war. Und Dinge, die er nicht erfassen konnte, waren ihm seit jeher unheimlich und er reagierte mit Ablehnung, ohne dass er das jemals offen zugeben würde. Sich selbst gegenüber nicht und schon gar nicht anderen gegenüber.

Es wollte ihm partout nicht in den Kopf, dass Menschen sich lustvoll dem Schmerz hingaben. Er zweifelte nicht an der Freiwilligkeit. Abgesehen von einer Reihe schwarzer Schafe - von denen es auch unter seinen Kollegen mehr als genug gab - glaubte er daran, dass zwischen den Sadisten und Masochisten, zwischen den Dominanten und Devoten Einvernehmlichkeit über ihr Handeln bestand. Das alles zog er nicht in Zweifel. Und verstand es dennoch nicht.

Auch heute nicht, wo er hier saß und sich die Plätze um ihn herum mit Menschen füllten, die gerade das suchten und begehrten, was er mit Sexualität überhaupt nicht in Verbindung bringen konnte.

Der Platz rechts neben von Brych blieb frei. Als der Gong zum letzten Mal erklang, war Kunz nicht gekommen. Gerade als die Saalbeleuchtung heruntergedimmt wurde, sprach eine junge Frau ihn an, ob der Platz neben ihm frei sei. Er blickte auf viel tätowierte Haut und etliche Piercings, von denen er weitere an Stellen vermutete, die von der knappen schwarzen Lederkleidung bedeckt waren. Sie trug lediglich ein Bustier und Hotpants und um dem Hals einen matten Edelstahlreif mit einem kleineren Ring daran. Ihm war egal, wer nun neben ihm saß, und er nickte der Frau zu und deutete auf den freien Platz neben sich.

»Danke, mein Herr!« Die Frau setzte sich und von Brychs Lippen verengten sich zu noch schmaleren, zusammengepressten Linien.

 

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Kommentare von Leserinnen und Lesern

famulus severus

Förderer.

19.12.2023 um 22:39 Uhr

Die vorgestellten Gestalten sind vielfältig, gut charaktrisiert und es entsteht Spannung, worauf Alles hinausläuft.

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Ronja

Autorin.

02.05.2021 um 03:32 Uhr

Die interessanten Charaktere ziehen mich gleich in ihren Bann. Detailreich beschrieben fesseln sie meine Aufmerksamkeit und ich kann es kaum erwarten den nächsten Teil zu lesen.

 

Das Schreibprojekt an sich gefällt mir auch sehr gut und die kreative Zusammenarbeit hat sich auf jeden Fall gelohnt. Vielen lieben Dank dafür.

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Katika

Autorin. Förderer.

23.04.2021 um 09:56 Uhr

Eine tolle Idee.

Ich bin gespannt wie es weitergeht, die Charaktere sind wunderbar vielfältig.

Es muss fantastisch sein, in so einer „Schreibwerkstatt“ mitzumachen.

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Gelöscht.

15.11.2017 um 00:34 Uhr

Neue, ungewohnte Gestaltung und Bearbeitung. Für mich persönlich stark gewöhnungsbedürftig - aber nicht uninteressant und ... spannend!

Danke Wolfgang

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Gelöscht.

14.10.2016 um 21:33 Uhr

Ich bin gespannt wie es weiter geht.

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Gelöscht.

28.06.2015 um 18:59 Uhr

Da bin ich schon gespannt wie es weiter geht!

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eileen

Profil unsichtbar.

22.05.2015 um 10:58 Uhr

Erst mal ein großes Kompliment für die Grundidee. Sie ist kreativ und inspirierend, Kopfkino vorprogrammiert.

Die Geschichte symbolisiert für mich das Prinzip der Schattenzeilen. Viele unterschiedliche Ansätze, Vorstellungen und Umsetzungen, die sich zu einem Gesamtkunstwerk zusammenfinden.

Die Geschichte bekommt damit eine tolle Dynamik.

Persönlich finde ich die Konstellation von Top, Ehemann und Sub in der Schusslinie sehr spannend und freue mich auf die weitere Entwicklung.

Ich danke euch für dieses spannende Experiment und die gekonnte Umsetzung

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Gelöscht.

10.02.2015 um 15:56 Uhr

Bin gespannte wie's weitergeht! Gut geschrieben

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Gelöscht.

06.02.2015 um 21:00 Uhr

Eine gute eibführung die neugierrig auf mehr macht

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Gelöscht.

24.01.2015 um 23:17 Uhr

Ein vielschichtiger Anfang. Wie es wohl weitergeht...

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