Schneewanderung
Eine Fantasy-Geschichte von Knurrwolf.
Eine weiße Decke hatte sich über die Welt gelegt und verbarg unter ihrer reinen Oberfläche die allgegenwärtigen Formen und Farben. Einigen Dingen gelang es, sich darüber zu erheben, während der Rest für einen Beobachter lediglich als grobe Umrisse erkennbar war. Selbst der Himmel schien bestrebt, das Verborgene auch weiterhin den Blicken zu entziehen. Unablässig sanken große, weiße Flocken zur Erde hinab und vergrößerten die einheitliche Pracht noch weiter. Ein Anblick, der unwillkürlich ein Gefühl der Ruhe und Stille verbreitete. Der Verkehr war unter dem dauerhaften Schneefall fast zum Erliegen gekommen. Denn wo vor kurzem noch Geschwindigkeit die oberste Direktive gewesen war, herrschte nun allein die Frage, ob man sein Ziel überhaupt erreichen würde. Die meisten Leute zogen es daher vor, zu Hause zu bleiben und die Schönheit des Wintertags aus der Wärme und Gemütlichkeit ihres eigenen Heims zu bewundern.
Auch der Friedhof war unter einer dicken Schicht Schnee versunken, und so gab es kaum Besucher. Trotzdem hatte jemand den heldenhaften Versuch unternommen, die Wege soweit frei zu räumen, dass sie begehbar blieben. Ein Versuch der leider scheiterte, und so waren lediglich die Andeutungen der breiteren Hauptwege zu erkennen. Ein Umstand, der selbst jene fern hielt, die ansonsten fast täglich ihre Bekannten oder Angehörigen besuchten. Und so lag das gesamte Areal zwischen den hohen Mauern vollkommen verlassen und still da.
Fast vollkommen verlassen, denn eine einsame Gestalt stapfte mit gleichmäßigen, kraftvollen Schritten durch den Schnee. Ein dunkler Wintermantel umhüllte sie und kniehohe Stiefel sanken tief in den Schnee. Atemwolken wallten regelmäßig unter einer tief hinab gezogenen Kapuze hervor und verliehen dem harten, männlichen Gesicht darunter eine beinahe unwirkliche Aura. Plötzlich blieb er stehen und lauschte einen Moment in das Schneetreiben. Sein Blick wandte sich dem schneebedeckten Stein eines Grabes zu und suchte den Namen, halb verdeckt unter dem weißen Überhang. Ein kurzes Zucken des Mundwinkels war die einzige Reaktion auf eben jenen, bevor er seinen Weg mit der gleichen Zielstrebigkeit fortsetzte.
Es dauerte nicht lange, dann schlug er eine neue Richtung ein und erreichte wenig später ein anderes Grab. Es glich den umliegenden Ruheorten, wenn auch ein kleiner Unterschied es von den anderen abhob. Vom Schnee umschmeichelt lag ein weibliches Wesen auf dem harten Stein der Grabplatte. Die kalte Berührung ihrer natürlichen Decke genießend, als ob es die sanfte Hand eines Geliebten wäre, räkelte sie sich auf dem Rücken liegend und ließ die langen Beine, wie die Parodie eines Kreuzes, gegen den Grabstein gelehnt in die Höhe ragen.
„Ich mag den Winter“, seufzte sie mit einer Stimme, die nicht nur über ihre Lippen zu kommen schien. Sanft wie Seide durchdrangen ihre Worte alles und sangen ein Lied von Freude und Leid gleichermaßen. Der Schnee enthüllte nur wenig von ihrem Körper, doch das wenige war von blutroter Haut bedeckt. Nass glitzerte das lange, schwarze Haar, das ihr Gesicht einrahmte und aus dem sich zwei kurze Hörner erhoben. Träge blickte sie zu ihrem Besucher empor und rollte schließlich mit einer eleganten Bewegung herum. Als sie sich erhob, fiel der Mantel aus unschuldigem Weiß von ihrem Körper ab, und lediglich Strähnen ihres Haares verbargen nur mehr unzureichend ihre bezaubernde Form.
„Du bist früher zurück, als ich gedacht habe.“ In ihrer Stimme klang eine Beschwerde mit, die jedem normalen Menschen das Blut hätte gefrieren lassen. Er kannte sie jedoch schon zu lange und zu gut, um darin mehr als eine trotzige Geste zu erkennen. Die Geste einer Frau, die sich den Gegebenheiten der Wirklichkeit unterwerfen musste - und nicht nur diesen.
„Es ging schneller, als gedacht und das trotz des Wetters“, erklärte er nun und reichte ihr die Hand. „Mir scheint, du hast dich trotzdem gut amüsiert.“
„Nicht wirklich“, erwiderte die Angesprochene, und ein verdächtiges Funkeln erhellte ihre Augen, „Niemand kam hierher, nicht eine Menschenseele.“
„Zu meinem Glück hat dir aber der Schnee zum Zeitvertreib gereicht.“ Seine Worte wurden von einem Schmunzeln begleitet, das sich zu einem Lächeln erweiterte, als er ihren Blick bemerkte. „Hast du nicht selbst eben noch gesagt, dass dir der Winter gefällt?“
„Der Winter ja“, bestätigte sie und glitt in seine wartenden Arme. „Aber nicht die Einsamkeit, also lass uns gehen. Hier ist mir der Spaß vergangen.“
Immer noch lächelnd geleitete er sie den gleichen Pfad zurück, auf dem er gekommen war: „Ganz wie du willst.“ Der Weg des Paares war nicht sehr weit und führte lediglich zum Zentrum des Friedhofs. Dort warteten die drohend aufragenden Mauern einer alten Kirche, und bei deren Anblick huschte ein wissendes Lächeln über die Züge der Frau. Doch ohne Wiederstand ließ sie sich in das Innere des Gebäudes führen.
Als sie die Pforte durchschritten, verbarg sie weder den wohligen Schauer, der ihren Körper erbeben ließ, noch das lustvolle Seufzen, das ihre Lippen überwand. Keines von beidem sollte ihrem Begleiter entgehen. Schließlich wollte er genau diese Reaktion provozieren, um sie für das einzustimmen, was nun kommen würde. Schließlich sollte ihre Geduld belohnt werden, und so schritt er mit ihr den Mittelgang entlang. Als sie vor dem schlichten Altar aus Stein standen, trat er hinter sie, und seine Hände legten sich auf ihre Oberarme. Langsam begann er, diese entlang zu streichen und beugte sich schließlich vor, um ihre nackte Schulter zu küssen.
„Mmm, ich mag den Winter doch“, stellte sie genussvoll fest und schloss die Augen.
„Nur den Winter?“, wollte er lächelnd wissen, während er die Seite ihres Halses küsste.
Im nächsten Moment schlossen sich seine Finger um ihre Handgelenke, und obwohl sie diese nur einen kurzen Augenblick umklammert hielten, brannte seine Berührung wie Feuer. Ein kurzer, leiser Schmerzensschrei entglitt ihren Lippen, als sie ihre Augen aufriss. Ungehindert durch ihn, trat sie einen Schritt vor und wandte sich, mit einem wütenden Ausdruck auf den feinen Zügen, zu ihm um. Doch ihre Erwiderung blieb ihr sprichwörtlich im Halse stecken, als sie die Hände hob und ein metallisches Klirren zu hören war. Ein rascher Blick enthüllte ihr die silbernen Bänder, die um ihre Gelenke lagen und mit einer dünnen Kette verbunden waren. Ihre Augen weiteten sich, als sie fauchend zu sprengen versuchte, was nur einer zu lösen in der Lage war. Vergeblich zerrte sie und ihr Muskelspiel ließ das Licht, das durch die bunten Fenster drang, auf ihrer Haut tanzen. Doch jedes Mal schien die Kette um ein Glied kürzer zu werden, bis sie schließlich erschöpft aufgab, als ihre Hände aneinander lagen.
„Nur den Winter?“, war seine Stimme erneut zu vernehmen, als er näher an sie heran trat.
Seine Finger hatten sich um eine der großen Kerzen geschlossen, die für eine stimmungsvolle Beleuchtung dieses Ortes gedacht waren. Mit einem scharfen Zischen erwachte die Flamme am Docht und flackerte unter seinem Atem. Diesmal suchten und fanden ihre Augen die seinen, und erneut erwachte das Flackern in ihrem Blick. Als sie kurz darauf das Gegenstück dazu bei ihm erkennen konnte, teilten sich ihre Lippen und erwartungsvoll benetzte ihre Zungenspitze diese.
Die Sonne war inzwischen hinter dem Horizont versunken, und das blendende Licht ihrer Strahlen war dem sanfteren Leuchten künstlicherer Quellen gewichen. Die nächtliche Beleuchtung verlieh dem Anblick der tief verschneiten Stadt eine urtümliche Schönheit und ließ die Schatten der Lichter über all die schneebedeckten Dächer und Straßen tanzen. Hoch oben auf dem Dach der Kirche, umspielt vom Glanz der umliegenden Stadt, starrten Wasserspeier mit ihren leblosen Augen in die Nacht hinaus. Ihre chimärenhaften Körper waren von der gleichen weißen Decke eingehüllt, wie alles andere, und mit ihren schrecklichen Grimassen wirkten sie wie Wächter längst vergangener Tage.
Als sich die Türe zum Dach knirschend öffnete, wandte er den Kopf um und seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Beleuchtet vom sanften Schein der Kerzen bot sich ihm ein diabolisch schöner Anblick. Im flackernden Lichtschein schimmerte ihre blutrote Haut und offenbarte ein präzises Muster aus Striemen. Wie alter Wein glitzerten Tropfen dunkler Flüssigkeit in einigen davon und waren ein unübersehbarer Beweis für Lust und Schmerz gleichermaßen. Noch immer waren ihre Handgelenke von den silbernen Bändern umschlossen und ihre ersten Schritte waren etwas wackelig.
„Du bist zu früh gegangen.“ Keine Anklage lag in ihrer Stimme, nur echtes, beinahe unterwürfiges Bedauern. Schließlich wurden ihre Bewegungen wieder sicherer, und wohlig reckte und streckte sie ihre gefesselten Arme nach oben. Ihre Unterlippe spielte mit der Spitze eines süßen Fanges und war eine erregende Erinnerung an tausend und mehr Qualen.
„Aber selbst du bist nur ein Mann und brauchst hin und wieder ein Pause.“ Ihre nächsten Worten zeugten davon, dass sich nicht nur ihr Körper erholte.
„Es freut mich, dass sich nicht nur deine Laune gebessert hat.“ Seine Antwort kam mit einem Hauch von Schärfe. Fordernd streckte er einen Arm aus: „Komm zu mir!“
Mit langsamen, geschmeidigen Schritten überwand sie den Abstand zwischen ihnen und sank erneut in seine Arme: „Lass uns wieder hinein gehen Dominus Raphael.“ Eine fordernde Demut lag in ihrer Stimme und demonstrierte auf einfache Art und Weise die grundlegende Beziehung dieser beiden Wesen. Mit einer kurzen Bewegung entledigte er sich des Mantels, der bislang um seine Schultern gelegen hatte und nun in den Schnee zu seinen Füßen sank. Mit einem sanften Rauschen entfalteten sich zwei gewaltige, pechschwarze Schwingen und schmiegten sich neckend um ihren Körper. Liebkosten die Spuren, die er darauf hinterlassen hatte. „Warum suchen wir uns nicht einen anderen Platz zum Spielen?“, wollte er lächelnd wissen und küsste sie sanft auf die Stirn. „Und keine Angst, dir wird nicht mehr langweilig sein. Ich werde dich nämlich erst am Weihnachtsmorgen befreien.“
Damit breitete er erneut seine Flügel aus und hob sie auf seine Arme. Im nächsten Moment schwang er sich mit einem gewaltigen Satz empor. Ein Luftzug fegte den Schnee von den nahen Wasserspeiern und ließ sie stumm Abschied nehmen. Nur um von ihrem begeisterten Jauchzen übertönt zu werden, dass so alt war wie die Welt selbst. Erhoben sie sich doch nicht nur in die schneeverhangene Dunkelheit des nächtlichen Himmels, sondern auch in ganz andere Höhen. Schließlich war heute der erste Adventsonntag. Bis Heiligabend war noch eine lange Zeit und für jeden Sonntag würde eine Kerze dazu kommen.