Diese Geschichte erreichte Platz 3 im »Schreibwettbewerb: Grenzen«.
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Sie lag in der Wiese und hatte die Arme von sich gestreckt. Das Gras kitzelte an ihren Handflächen. War es eine Hummel, die sich neben ihr niederließ, am Nektar labte? Die Sonne schien ihr in das Gesicht und sie sah hinter geschlossenen Lidern eine Farbexplosion. Ein warmes Orange, das sich an den Rändern verdunkelte, bis es zu einem satten Rot wurde. Rot wie Blut. Nichts denken. Sie beschattete ihr Gesicht, öffnete träge die Augen. Ein vergänglicher Moment, auch die Wolkenformation über ihr. Vor Jahren hatte sie noch Figuren darin erkannt. Sie versuchte es auch diesmal, doch die kindliche Unbeschwertheit fehlte, es gelang nicht mehr. Ein formloses Nichts, in stürmischer See.
»Aurélie!«
Wenn sie die Augen wieder schloss, würde sie dann verschwinden? Glitzerpartikel, die sich in der Sonne auflösten.
»Ich weiß, dass du dich hier irgendwo versteckst. Sprich endlich mit mir!«
Sprechen. Sie wollte nicht sprechen. Kein einziges Wort vermochte auszudrücken, was sie empfand. Es wäre Verschwendung, deshalb schwieg sie und wartete.
»Er kommt nicht zurück!«
Sie sprang auf, hielt sich die Ohren zu, wollte den Unsinn nicht mehr hören.
»Schätzchen, lass uns nach Hause gehen«, flehte ihre Schwester, deren Sohn an ihrem Rockzipfel hing, bis sie ihn endlich hochhob. Als wäre sie ebenfalls ein Kind, streckte sie ihr die andere Hand entgegen. Sie ertrug kein Mitleid, von niemandem! Deshalb lief sie davon, bis die Rufe verhallten und sie am Rande einer Klippe stand. Der Abgrund tat sich unter ihr auf. Die Gischt malte Muster in die tobende Brandung. Sie beneidete die Seemöwen um ihre Freiheit, dem Horizont entgegenzufliegen. Schon breitete sie die Arme aus, doch etwas hinderte sie. Wiedereinmal. Damit sie der unendlichen Weite widerstand, wendete sie sich ab. Als wäre es eine Fügung, sah sie die Mohnblumen. Sie lächelte, tanzte darauf zu. Ihr Herr mochte es, wenn Mohnblumen ihr Haar zierten. In deren Mitte ließ sie sich im Schneidersitz nieder. Eine laue Meeresbrise machte die Hitze erträglich, wiegte die Halme und trug das Salz an ihre Lippen. Ungeduldig schob sie den Träger ihres Kleides nach oben, summte eine Melodie, während sie einen Blumenkranz flocht. Es war nicht einfach und schon löste sich ein Blatt und landete, vom Wind getragen, auf der Innenseite ihres Oberschenkels. Das Blütenblatt hob sich von ihrer makellosen, blassen Haut ab. Wie lange war es her, dass sich Striemen auf ihrer Haut abgezeichnet hatten? Sie wusste es nicht mehr, denn Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Ach, wären sie noch zu sehen. Ein Dolch fuhr durch ihre Brust, entlockte ihr einen lautlosen Schrei. Plötzlich donnerte es. Erschrocken riss sie die Augen auf, sah die dunklen Wolken.
Und als die ersten Regentropfen fielen, formten sich daraus bedrohliche Figuren, die keiner kindlichen Fantasie entsprangen, sondern Realität hießen. Die Mohnblumen fielen zu Boden, die nassen Blüten rot, wie Blut.
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