Platz 5 im Schreibwettbewerb »Das Päckchen« (»Schreibwettbewerb: Das Päckchen«).
Gerne wäre ich glücklich; ich bin es nicht. So viel Zurückweisung habe ich mir inzwischen geholt, konservativ geschätzt sollte es für ein paar Leben reichen. Unsere Existenz ist aber nun mal kein Nullsummenspiel, bei dem jeder Regentropfen, den man abbekommt, von einem Sonnenstrahl eilfertig kompensiert wird; jeder lernt es, sogar ich beginne es zu begreifen.
Vor mir liegt ein Päckchen. Ohne Adresse, ohne Absender, einfach nur grobes Packpapier, das eine kleine Kiste umhüllt. War auch gar nicht nötig zu schreiben, von wem es kommt. Ich habe keine Ahnung, was sich darin befindet, doch ich weiß mit absoluter Sicherheit, sein Inhalt wird mein Leben verändern. Nur, wie ich das finden soll, darüber bin ich mir nicht im Klaren, denn ich will zwar diese Veränderung, habe aber Angst vor meinen Gefühlen und vor dem Leben und vor eigentlich allem; kein Wunder also, wenn ich etwas unentspannt bin. Schon blöd, feige zu sein, was alles Neue betrifft. Natürlich werde ich trotzdem zur Schere greifen, am besten in Julies Gegenwart. Der Inhalt des Päckchens, auch das weiß ich schon, ohne ihn zu kennen, betrifft nämlich nicht nur mich, sondern auch sie; ist also fair, wenn sie dabei ist, wenn ich ihn enthülle, ich schätze, ich bin ihr diese Geste schuldig. Schließlich habe ich sie immer belogen, wenigstens einmal möchte ich ehrlich zu ihr sein.
Ich kann Julie gut leiden, auch wenn ich nicht in sie verliebt bin. Sie ist still, sie ist schüchtern und sie hat ein unglaublich süßes Lächeln; außerdem halte ich sie für ein bisschen dumm. Klingt jetzt vielleicht gemein, ist aber nicht so gemeint. Ich habe zu wenige Schwierigkeiten mit dem Unistoff, um in seiner Bewältigung eine anspruchsvolle Aufgabe zu sehen. Darauf bilde ich mir nichts ein. In all den Dingen, die tatsächlich von Bedeutung sind - Freunde zu finden, zu lachen und glücklich zu sein -, bin ich so viel schlechter als alle, die ich kenne (ich kenne natürlich nicht sehr viele), es steht mir mit Sicherheit nicht zu, mich abfällig über andere zu äußern, nur weil sie Schwierigkeiten damit haben, verquaste Theorien mit solcher Verve wiederzugeben, dass sie selbst an die Bedeutung ihrer Worte zu glauben beginnen. Julie mag an der Universität kämpfen, allerdings ist sie smart genug, um sich nicht übermäßig mit diesem Problem zu beschäftigen. Unsere Beziehung, fürchte ich, beschäftigt sie auch nicht wirklich. Vielleicht ist sie nur aus Bequemlichkeit bei mir, und weil sie keine Lust hat, darüber nachzusinnen, was alles anders würde, wenn es anders würde. Möglicherweise interpretiere ich auch einfach zu viel in ihre beharrliche Weigerung, mit mir zu schlafen. Sie erklärt dies mit Reinheit und Unschuld und so, und irgendwie bedaure ich, nicht genügend Interesse für unsere Beziehung aufzubringen, um empört oder verletzt zu sein. Stattdessen beruhigt der Gedanke, sie liebe mich nicht, mein Gewissen. Zwar bin ich es gewohnt, mich wertlos zu fühlen, aber es fällt leichter, die Schuld daran, dass es nicht so läuft, wie man es nach Lektüre rosaummantelter Kitschbücher erwarten dürfte, nicht bei mir allein zu suchen. Immerhin mag ich, wenn sie mich anlächelt. Der andere Benefit, den ich aus unserer Beziehung ziehe, ist, mir einreden zu dürfen, ich sei ein normal veranlagter Mensch mit normalen Neigungen und Wünschen. Aber stimmt natürlich nicht. Es liegt nicht an meinem ungeschickten Umgang mit anderen. Es liegt auch nicht daran, dass ich zu selten lächle. (Lächeln stört mich eben beim Ausleben meiner Depressionen.) Vielmehr hat es damit zu tun, was ich mir wünsche, ganz egal, welch wichtige Aktivität ich gerade zu verfolgen vorgebe, obgleich ich nichts sehnlicher will, als meine geheimen Sehnsüchte zu vergessen ... nein, falsch, obgleich mir mein Verstand befiehlt, ich sollte mir nichts sehnlicher wünschen, als sie zu vergessen, aber wer hört schon auf sein Hirn, wenn es um Liebe geht? Egal, wahrscheinlich sollte man nicht bereuen, wer man ist, ansonsten wird das Leben noch schwieriger. Allerdings wäre es fairer, Julie zu gestehen, wovon ich fantasiere, trotzdem verspüre ich keine zu großen Gewissensbisse, meine Freundin nicht mit Storys über meine heimlichen Wünsche zu behelligen; ohnehin sprechen wir inzwischen so selten miteinander, dass sich für die wenigen Gelegenheiten, wenn wir vorgeben, aufeinander einzugehen, andere Themen anbieten.
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