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2184

Im Jahr 2184 lebt der Geschichtslehrer Thunberg in einer Gesellschaft, die aus den Trümmern nach der Klimakatastrophe entstanden ist. Zu Thunbergs minutiös durchgeplantem Alltag gehört die intensive Nutzung virtueller Liebesdienste. Eine reale Begegnung jedoch stellt dann alles auf den Kopf.

Eine Science-Fiction-Geschichte von Obscurius Optissimus.

  • Info: Veröffentlicht am 01.01.2025 in der Rubrik ScienceFiction.

  • Urheberrecht: Veröffentlichung, Vervielfältigung oder Verwendung sind nicht erlaubt. Mehr.

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Bild: Schattenzeilen, Midjourney

 

2184

 

»Thunberg 19! Es ist 7 Uhr und 30 Minuten am Dienstag, 04-13-64 des transhumanistischen Zeitalters. Dein Tag beginnt. Deine heutige Morgenroutine umfasst 45 Minuten. Willst du sie mit Musik einleiten?« Die freundliche Frauenstimme in Thunbergs Ohr klingt energetisierend und klar.

Er richtet sich auf. »Alexa, wieso 45 Minuten? Ich habe heute Morgen nur Anziehen, Duschen, Zähneputzen und Frühstücken angegeben. Das sollte 30 Minuten dauern.« Während er mit seiner digitalen Assistentin in seinem Ohr verhandelt, bewegt sich Thunberg bereits zielgerichtet auf seinen Kleiderschrank zu und zieht seinen Thermoanzug aus der Schublade.

»Verzeihe, dass ich dich korrigieren muss, Thunberg 19. Du hast am Sonntag, 02-13-64 um 17 Uhr und 52 Minuten den Vorsatz vereinbart, diese Woche jeden morgen 15 Minuten Frühsport in deine Morgenroutine einzubauen. Dein Social-Pfand beträgt 150 Credits. Soll ich das Pfand für dich einlösen?«

Thunberg bewegt sich geradlinig ins Badezimmer und steigt unter die Dusche. »Heute bitte 32°C Wassertemperatur!«, ruft er aus. Die warme Brise folgt eine Sekunde später. »Ja Alexa, löse das Pfand ein!« Er shampooniert seine Haare, seift seinen Körper ein und beginnt schließlich damit, sich zu rasieren.

»Dein Social-Pfand für deine Morgenroutine wurde eingelöst.«

»Gottseidank!«, murmelt Thunberg vor sich hin. »Du kannst die Einstellungen jeden Sonntag zwischen 16 Uhr und 0 Minuten und 18 Uhr und 0 Minuten an deine individuellen Bedürfnisse anpassen.« Thunberg steigt aus der Dusche.

»6 Minuten Duschzeit bei 32°C - 17 Credits werden von deinem Konto abgebucht«, hört Thunberg in seinem Ohr. Er zieht seine Zahnbürste aus der Wand und hält sie sich in den Mund. Die Bürste beginnt daraufhin zu vibrieren und seine Zähne zu schrubben. »Was ist heute mein Tagesablauf, Alexa?«, fragt Thunberg, während er die Zahnbürste in seinem Mund auf und ab bewegt.

Die Computerstimme in seinem Ohr ertönt wieder, während vor seinen Augen eine schematische Abbildung seines Wochenplans erscheint. Zeile für Zeile liest sie Thunberg die Eintragungen des heutigen Tages vor:

 

7/30-8/15: Morgenroutine

8/15-9/00: Persönliche Entwicklung: Klavier

9/00-9/15: Personentransport für Präsenzveranstaltung

9/15-10/00: Sozialbeitrag: Geschichtsunterricht, achte Klasse +500 Credits

10/00-10/15: Meditation und autogenes Training

10/15-11/00: Sozialbeitrag: Geschichtsunterricht, zehnte Klasse +500 Credits

11/00-11/15: Socializing mit Arbeitskollegin Neubauer 11

11/15-12 ...

 

»Okay, das reicht. Erinnere mich an den Rest später nochmal!«, unterbricht er die Computerstimme, während er seine Vitamintabletten mit seiner Frühstücksration aus der Kryokammer zieht. »Wann komme ich heute Abend nach Hause?«, fragt Thunberg schließlich.

»Personentransport für Präsenzveranstaltung 18/00-18/15«, antwortet die Computerstimme.

»Werde ich da Zeit für das Cyber-Sex Forum haben?«, fragt er neugierig.

»Ja, von 19/15 bis 19/45 ist das Cyber-Sex Forum von Neuwelt in deinem Terminkalender eingetragen. Möchtest du deine Präferenzen in deinem Nutzerprofil ändern?«

Thunberg schmunzelt vorfreudig. Er hat keine Partnerin und er trifft auch sonst selten bis nie Frauen für ein romantisches Date. Das tun die wenigsten Menschen seiner Klasse in Neuwelt. So gut wie niemand kann mit den Reizen des Forums konkurrieren. Und da es ein Ort der unbegrenzten Wünsche und Möglichkeiten ist, will es auch niemand. »Nein Danke! Ich kümmere mich dann heute Abend darum«, antwortet er schnell und schlingt die weiße, undefinierbare Masse in sich hinein.

 

Nach dem Essen schaut Thunberg auf die Uhr, die in seinem Blickfeld oben links stets zu sehen ist. »7:59« steht auf der Anzeige. Er sagt: »Alexa, hilf mir, die kommenden 15 Minuten zu überbrücken!« Thunberg überkommt ein schlechtes Gewissen. Diese 15 Minuten waren für den Sport eingeplant, aber er hat sich nun mal dagegen entschieden. Jetzt, nachdem er bereits geduscht hat, ist es zu spät. Die 150 Credits sind es ihm wert. Dafür muss er die ganze Woche keinen Sport mehr machen.

»Wünschst du dir, an einem deiner persönlichen Lebensziele zu arbeiten?«, fragt die Computerstimme.

Thunberg seufzt. »Nein, heute nicht. Öffne bitte den News-Space.« Vor Thunbergs Augen öffnet sich eine gigantische Landschaft virtueller Datenströme. Gewaltige Reklame, Animationen und ein alles übertönendes Stimmengewirr. Thunberg spricht zu seiner digitalen Assistentin: »Bitte sortiere die Meldungen nach meinen persönlichen Präferenzen.« Unmittelbar darauf flacht die Informationsflut ab und Thunberg kann einzelne News-Stories wie in einem Einkaufsladen begehen. Zu seiner Linken liest er: »Grenzsicherheit bedroht. Hunderttausende Saboteure und Verbrecher stürmen die Anlage.« Thunberg läuft zum nächsten Nachrichtenstand. »Eskalation in den Reservaten. Polizisten werden Opfer verbaler Auseinandersetzungen. Reservat erfolgreich liquidiert.« Thunberg beachtet die Meldungen nur flüchtig. Ihn interessiert etwas anderes. »Alexa, gibt es eine Wettervorhersage?«

Die digitale Assistentin antwortet nicht direkt. Die Nachrichtenstände verblassen. Schließlich hört Thunberg ihre Stimme in seinem Ohr. »Ich bitte um Verzeihung. Leider stehen keine verifizierten Wetter- oder Klimadaten zur Verfügung. Über Meldungen aus dem Neuwelt Social-Forum oder persönlicher Berichterstattung wird von offizieller Stelle gewarnt.«

Thunberg verlässt den digitalen Informationsmarktplatz. »Ich danke dir für die Auskunft, Alexa!«

 

Er begibt sich zu seinem Klavier und beginnt damit, Tonleitern zu üben. »Keine verifizierten Daten ...«, murmelt er vor sich hin. Schließlich setzt er zu Chopins Étude Op. 25, Nr. 11 an. Er versinkt in Gedanken und fragt sich, in welcher Welt der Komponist gelebt haben muss, um einem Winterwind solch kraftvollen Ausdruck zu verleihen.

 

***     

 

Als Thunberg um 9 Uhr und 0 Minuten in seinem Thermoanzug seine Wohnung verlässt, ist er erleichtert. Das Klavierspielen erfüllt ihn mit einem Gefühl von Selbstwirksamkeit. Seine Scham wegen der übersprungenen Sporteinheit ist wieder vergessen.

 

Ein Hitzeschlag beendet seine Schwärmerei abrupt, als er die Tür seines Wohnungsgebäudes öffnet. Ein schwefeliger Gestank steigt in Thunbergs Nase. Alles ist gelb. Auf der anderen Straßenseite erkennt Thunberg verhüllte Gestalten, die sich durch die schwüle Atmosphäre schlängeln. Thunberg zieht seine Feinstaub- und Ozonschutzmaske auf und wirft sich in den Strudel. Der dichte gelbliche Nebel umgibt ihn und versperrt seine Sicht auch Richtung Himmel. Thunberg weiß nicht, wie weit die Wohnhäuser in seiner Straße in den Himmel ragen. Ihre Dächer konnte er noch nie erkennen. Der Begriff Himmel hat in seiner Sprache jede Bedeutung verloren. Blind vertraut er der Navigation seiner digitalen Assistentin und läuft Richtung Nahtransportstation. Autonome Fahrzeuge, die wie ein Taxi die gesamte Stadt befahren, halten und starten dort. Thunbergs Nahtransport fährt in zwei Minuten. Das entspricht genau der Zeit, die er für seinen Fußweg bis zur Station benötigt. Er schaut sich um.

Müllberge häufen sich am Straßenrand. Obdachlose liegen dehydriert gegen die maroden Häuserfassaden gelehnt. Sie tragen weder Thermoanzüge noch Atemschutzmasken. Thunberg ist von diesem Anblick nicht überrascht.

Dennoch fragt er seine digitale Assistentin. »Alexa, haben wir wieder A-Staub in Neuwelt? Bitte verwende auch die nicht verifizierten Daten des Social-Forums.«

Die Assistentin benötigt einige Sekunden für ihre Antwort. »Ja, das Hochdruckgebiet Neofasch 12 sitzt seit 17/10/64 über Europa-Afrika. Den Berichten unserer User zufolge wirbelt dieses somit seit 73 Tagen A-Staub aus dem zentral- und nordafrikanischen Wasteland über die Stadt. Ich bin verpflichtet, dich darüber aufzuklären, dass die Datenerhebung aus dem Social-Forum keiner Verifizierung unterliegt.«

Thunberg nähert sich der Station. »Die Verifizierung sehe ich mit meinen eigenen Augen«, murmelt er vor sich hin. »Alexa, ich denke darüber nach, dieses Hochdruckgebiet aus neo-geopolitischer, als auch neo-historischer Sicht heute im Unterricht mit den 8-Klässlern zu behandeln. Kannst du mir eine vierseitige Abhandlung der Thematik vorbereiten. Und ein Zeitfenster, mich einzulesen?« Er steigt mit drei weiteren Personen, die er nicht kennt, in den Nahtransportwagen.

»Gerne. Die Abhandlung steht jetzt in deinem Inventar zur Verfügung. Ich habe dir eine 15-minütige Einarbeitungsphase 9/00-9:15 bereitgestellt. Die Planänderung wurde erfolgreich im Rawls-Algorithmus akzeptiert. Der Netgain durch die Qualitätssteigerung deines Geschichtsunterrichts übertrifft den Netloss deiner Verspätung. Somit werden dir nach Abschluss deiner Unterrichtseinheit 132 zusätzliche Credits gutgeschrieben.«

Thunberg antwortet stolz: »Danke, Alexa! Da habe ich die 150 Credits ja fast wieder drin.«

 

***

 

»Guten Morgen, Kinder!«, ruft Thunberg in die Klasse.

»Guten Morgen, Lehrer Thunberg 19!«, ruft die Klasse ihm müde und gelangweilt entgegen.

»Na, ihr seid heute ja wieder fit!« Thunberg ist darum bemüht, die Runde mit seiner Energie anzustecken. Schließlich hat er heute etwas Besonderes für sie geplant. »Wir haben nicht viel Zeit, deshalb fangen wir direkt an. Wer von euch kann mir kurz die zwei Ökokatastrophen zusammenfassen?«, fragt Thunberg enthusiastisch die 24 lethargischen Schüler, die ihn desinteressiert anstarren. »Na kommt schon, das haben wir alles letztes Halbjahr rauf und runter behandelt. Das muss einfach da sein!«

Ein paar seiner Schüler richten sich gemächlich auf ihren Holzstühlen auf. Sie lehnen sich über die abgenutzten Tische, die wohl schon seit einigen Jahrhunderten nicht erneuert wurden. Nur Fourier 18, der Klassenstreber meldet sich.

»Nicht immer die Gleichen!«, ruft Thunberg aus. »Gore 7, wie wäre es mit dir. Wann war die erste Ökokatastrophe? Komm schon, das weißt du.«

Der 14-Jährige schaut seinen Lehrer verunsichert an. »Also, ehhm, die, ehmm ... der Treibhauseffekt ...«, die Klasse lacht.

»Hey!«, ruft Thunberg in die Klasse. »Hier wird nicht gelacht! Sonst rufe ich euch als Nächstes auf. Also, der Treibhauseffekt - die erste Ökokatastrophe, beginnend im 18. Jahrhundert gregorianischer Zeitrechnung bis in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts. Schon mal gut, dass du die kennst.« Thunberg schnappt sich einen Kreidestummel von der versifften Tafel und beginnt damit, ›Die zwei großen Ökokatastrophen‹ als Überschrift auf die Tafel zu schreiben. »Treibhauseffekt, 18. bis 21. Jh. GZ«.

Er dreht sich wieder zu seiner Klasse. »Den Treibhauseffekt kennen wir hoffentlich alle. Fossile Brennstoffe haben den Menschen ein enormes Produktivitätswachstum und eine verbesserte Lebensqualität ermöglicht. Fabriken, Transport, Heizung ... Der Preis waren Treibhausgase, die das Erdklima bis zum Ende des 21. Jh. GZ auf über 4 Grad erwärmten. Was war die Folge?«

Die Klasse starrt ihren Lehrer stumm an.

»Irreversible Veränderung des Erdklimas. Das Abtauen der Eisschichten. Sowohl Gletscher als auch die Arktis und Antarktis verloren einen großen Teil ihrer Eismassen. Dadurch verloren sie ihre Reflektivität. Die Entwaldung zerstörte die Treibhauskapazität der Erde. Das bringt uns zur ...?« Thunberg schaut seine Klasse fordernd an.

Ein paar seiner Schüler rufen, ohne sich zu melden: »Zweiten Ökokatastrophe!«

Thunberg läuft wieder zur Tafel. »Genau. Die ›zweite Ökokatastrophe‹ folgte direkt als Konsequenz der ersten.« Thunberg schreibt wieder an die Tafel: ›Politische Destabilisierung aller modernen Nationalstaaten, Meta-Faschismus und ...‹, das ist der entscheidende Punkt ...« In der hinteren Reihe hört er Getuschel. Die Schüler sind in Privatgespräche versunken. »Selbstverstärkende Erwärmung zur Jahrhundertwende.«Thunberg richtet sich wieder an seine Klasse. »Und schließlich Ernteausfälle, Wasserknappheit, der komplette Zusammenbruch der Lieferketten im Jahr 2114. Das daraus folgende Massensterben vor 70 Jahren muss ich euch nicht erzählen, das kennt ihr natürlich alle. Vermutlich ist euch diese Epoche eher als transhumanistische Revolution geläufig.« Er überblickt streng seine Klasse. Er spürt, dass er mit seinen Worten einen wunden Punkt trifft. Die Betroffenheit der Schüler kennt er aus anderen Jahrgängen. Er ist sehr darum bemüht, die entsprechende Ernsthaftigkeit mitzutransportieren. Seine eigenen Großeltern hatten das Massensterben als Kinder überlebt, so wie alle Kinder in diesem Raum Nachfahren Überlebender sind. Thunberg hat sich schon häufiger Schwierigkeiten eingehandelt, wenn er das für eine Revolution erklärte Massensterben im Unterricht offen als das Letztere bezeichnete.

»Nur etwa 2,5 Milliarden der einst 11 Milliarden Menschen, die es um die Jahrhundertwende auf der Erde gab, sollten das Licht des Jahres 2120 erblicken - der Beginn unserer transhumanistischen Zeitrechnung.« Thunberg bekommt jedes Mal Gänsehaut, wenn er an die Geschichten denkt, die seine Großeltern ihm aus dieser Zeit erzählten. Sie waren es schließlich, die ihn dazu bewogen, Geschichtslehrer zu werden. Niemals würde er sich den Richtlinien seiner Ausbildung vollständig unterwerfen und dieses dunkle Kapitel seinen Schülern vorenthalten. Dafür liebt er sein Fach zu sehr.

»Das Massensterben ist kein Spaß, Hasselmann 14!« Thunberg schaut dem Hinterbänkler streng in die Augen und reißt ihn und seinen Sitznachbarn aus ihrem Tischgespräch. Komplett ohne Propaganda darf er den Begriff jedoch nicht im Raum stehen lassen. Sonst könnte er sich zu viel Ärger einhandeln. »Unsere transhumanistische Gesellschaft Neuwelt ist aus den Ruinen dieser Katastrophen entstanden. Sie ist es, die unsere Welt vor einem erneuten ökologischen Kollaps bewahrt. Ihr verdanken wir, dass sich das Erdklima in den letzten Jahrzehnten erholen konnte.« Thunberg wirft einen Blick aus dem Fenster in den gelben Nebel. »Das bedeutet nicht, dass wir einfach vergessen dürfen, was unsere Vorfahren angerichtet haben.«

Gore 2 in der vorderen Reihe wendet sich an ihren Lehrer: »Lehrer Thunberg, wird das Massensterben in den Examen auch abgefragt?«

Thunberg seufzt. »Nein, das habe ich euch erzählt, weil ich es wichtig finde. In dem Examen solltet ihr euch vor allem auf die transhumanistische Revolution und den Beginn unserer Zeitrechnung fokussieren.« Er läuft zurück an die Tafel. »Zumindest, wenn ihr euch mehr für eure Noten als für die Geschichte interessiert.« Er macht eine kurze Pause, um die Aufmerksamkeit seiner Klasse wieder auf sich zu lenken.

»Wer von euch hat heute Morgen einen Thermoanzug getragen, um in die Schule zu kommen?«

Die ganze Klasse meldet sich.

»Und wer hat eine Feinstaub-Schutzmaske getragen?«

Etwa die Hälfte der Klasse behält ihre Hand oben.

»Besser so. Ich kann euch nicht zwingen, ich empfehle es euch aber zum Schutz eurer Gesundheit. Ich habe das Thema angesprochen, weil wir seit über zwei Monaten dem Hochdruckgebiet Neofasch 12 ausgesetzt sind. Ich will euer Bewusstsein dafür schärfen, dass die Welt nicht immer so war. Es gab mal eine Zeit, da konnten Kinder wie ihr in - was ihr heute Hausbekleidung nennen würdet - auf die Straße gehen. Die Luft konnte man problemlos ohne die Schutzmasken atmen. Und die Umgebungstemperatur war in unseren Breitengraden meistens eher zu kalt als zu warm. Auch wenn wir die Schrecken der Vergangenheit gerne vergessen würden, wir stecken aus historischer Sicht immer noch mittendrin.« Thunberg merkt, dass er die kurze Aufmerksamkeitsspanne seiner Klasse zum wiederholten Mal überzogen hat. »Deshalb erwarte ich als Hausaufgabe bis nächste Woche eine kritische Auseinandersetzung zu diesem Thema: das Hochdruckgebiet Neofasch 12 im Kontext der zweiten Ökokatastrophe und der transhumanistischen Revolution.« Ein unzufriedenes Raunen durchzieht die Klasse. »Manche Dinge ändern sich nie«, murmelt Thunberg vor sich hin.

 

***

 

»Du hast das Massensterben wirklich wieder im Unterricht ausgepackt?«, fragt Neubauer 11, Thunbergs Kollegin. Die beiden sitzen für ihre 45-minütige Socializing-Einheit im Lehrerzimmer und schlürfen Neo-Smoothie, ein ökologisch modernes und erfrischendes Kaltgetränk. Weder Thunberg, noch Neubauer wissen, woraus es besteht und sie wollen es auch nicht wissen. Sie weigern sich, ihre digitalen Assistenten danach zu fragen. Zumindest bei ihrem Smoothie bevorzugen sie ihre eigene Ignoranz.

»Ich konnte es einfach nicht lassen«, antwortet er.

»Du bekommst nur wieder Schwierigkeiten mit den Eltern. Ja, der Informationsfreiheits-Artikel erlaubt dir, alles zu sagen und zu schreiben, was du willst, aber die Eltern eben auch. Du musst es doch nicht jedes Mal darauf anlegen.« Neubauer nimmt einen Schluck ihres Neo-Smoothies.

»Du hast recht, ich muss nicht, ich darf aber. Wenn wir diese Vergangenheit nicht aufarbeiten, laufen wir immer Gefahr, dass sowas nochmal passiert.« Auch Thunberg nimmt einen Schluck. »Siehst du, wie die Luft da draußen aussieht? Wie hoch die Temperaturen zu dieser Jahreszeit sind? Ich habe das Gefühl, dass es schlimmer wird. Aber niemand spricht darüber.«

Neubauer beugt sich nach vorn. »Wenn es wieder passiert, dann passiert es eben wieder. Ich würde das Ganze nüchterner angehen. Wir sind alle dem Tod und dem Untergang geweiht. Was nutzt es da, irgendwelche Reden zu schwingen und die Welt retten zu wollen. Du schaffst es ja nicht mal, deine Schüler zu ihren Hausaufgaben zu motivieren. Glaubst du echt, die wollen von dir die großen Offenbarungen über das Weltklima hören?«

Thunberg lehnt sich zurück. Er ist gewohnt, von Neubauer Gegenwind zu bekommen. Bei den allermeisten Themen sind die beiden komplett gegensätzlicher Meinung. Trotzdem sind sie beste Freunde. Thunberg schätzt ihre Meinung. Mit ihr könne er sich stundenlang streiten. Leider ist die gemeinsame Zeit begrenzt. In einer halben Stunde beginnt das nächste Modul.

Er fragt sie: »Wie läuft es mit deiner Partnerin?«

Neubauer lächelt. »Gut wie immer. Sind jetzt seit 7 Jahren per 10-Kilo-Pfand verheiratet.«

Thunberg reißt seine Augen auf. »10-Kilo-Pfand?! Seid ihr irre? Das sind 10.000 Credits? Wisst ihr, wie lange ihr dafür arbeiten müsstet?«

Neubauer lacht. »Natürlich, aber ist dir klar, wie lang 7 Jahre sind? Wenn wir uns jetzt trennen, wäre die Beziehung eindeutig der größere Verlust als die Credits. Schließlich dient das Pfand dem Allgemeinwohl. Und solange wir zusammenbleiben, verlieren wir sie nicht. Ich jedenfalls habe da kein schlechtes Gewissen. Es ist eben auch ein Vertrauensbeweis.«

Thunberg schüttelt den Kopf. »Könnte ich nicht! Ich habe heute Morgen schon 150 Credits verloren, weil ich meinen Sport nicht machen wollte.« Sie lachen beide. »Außerdem sehe ich keinen echten Bedarf für eine Partnerschaft. Was habt ihr davon?«

Da schaut Neubauer ihn provozierend an. »Vielleicht solltest du es einfach mal versuchen. Statt dich tagelang in die Menschheitsgeschichte zu vergraben, könntest du auch dem weiblichen Geschlecht etwas mehr Aufmerksamkeit schenken. Das bringt dich bestimmt auf andere Gedanken.«

Thunberg ist von Neubauers Direktheit überrumpelt.

Sie sagt: »Ich kann die digitale Neuwelt-Partnerbörse sehr empfehlen. Du kannst deine Partnerwahl sowohl durch den Rawls-Algorithmus für das Allgemeinwohl optimieren, als auch egoistische Präferenzen angeben. Das ist ganz dir überlassen. Der Sexuelle Selbstbestimmungsartikel hat festgelegt, dass die Freizügigkeit ein größeres Grundrecht ist als der Rawls’sche Netgain. Also freie Fahrt! Bei 52-Millionen Userinnen finden die selbst für dich ein Match!«

Thunberg seufzt. »Aber wozu denn?« Er sieht sich um, um sicherzustellen, dass niemand sie beobachtet. »Weißt du, im Cyber-Sex Forum bekommt man doch alles geboten, was Intimität oder so betrifft. Wozu den ganzen Ärger mit einem Partner?«

Sie antwortet ihm rasch: »Man bekommt alles, sagst du? Und das kommt ausgerechnet von dem ach so gesellschaftskritischen Revolutions-Leugner Thunberg.« Mit ihrem Kopf schüttelnd zieht sie wieder an ihrem Neo-Smoothie. »Ich verrate dir mal ein Geheimnis: Das Cyber-Porn Forum hat dir tatsächlich rein gar nichts zu bieten. Und weißt du auch warum? Weil es im Forum keine Liebe gibt. Und ohne Liebe gibt es keine Intimität.«

Thunberg versinkt in seine Gedanken. Er will Neubauer nicht zeigen, wie fasziniert er von ihrer Äußerung ist. Natürlich kannte er den sexuellen Selbstbestimmungsartikel. Es gab einen neuweltberühmten Präzedenzfall. Ein homosexuelles Paar lebte in einer sadomasochistischen Beziehungsdynamik. Diese stand aus verschiedensten Gründen, an die sich Thunberg nicht mehr genau erinnert, gegen das ökonomische Allgemeininteresse, dem Rawls’schen Kalkül. In der Neuwelt hat das Thema wie kein anderes Wellen geschlagen, bis es schließlich zu diesem historischen Gerichtsurteil und folglich zu dem sexuellen Selbstbestimmungsartikel kam.

»Habt ihr euch bei eurem 10-Kilo-Pfand auch auf den Artikel berufen?«, fragt Thunberg.

»Ganz genau. Der Algorithmus mag das natürlich gar nicht. Aus der Statistik kann er berechnen, dass diese Vereinbarung weder die Beziehungsqualität, noch die Trennungswahrscheinlichkeit, noch die Ökonomie unserer Partnerschaft optimiert. Im Gegenteil, vermutlich schadet sie sogar.«

Thunberg lacht wieder. »Dafür hätte ich keinen Rawls-Algorithmus gebraucht, das hätte ich dir auch so sagen können.« Er trinkt den Bodensatz seines Neo-Smoothies und setzt das leere Glas auf den Tisch. Im Augenwinkel erkennt er, dass er noch vier Minuten bis zu seinem nächsten Modul hat.

»Die Liebe kennt keine Zahlen«, sagt Neubauer. »Probier es mal. Du wirst diese Freiheit zu schätzen wissen. Das tut jeder, der aus der Maschinerie ausbricht. Der Algorithmus ist verpflichtet, dich über deine Entscheidungen aufzuklären. Wenn du dein Einverständnis gibst, darf er sich in deine Lebensführung aber nicht mehr einmischen. Er ist sogar verpflichtet, dir bei der Erreichung deiner Ziele zu helfen. Vielleicht solltest du mal darüber lesen, das ist auch historisch.« Auch Neubauer setzt ihr leeres Glas auf den Tisch.

Thunberg schnappt sich die Gläser und räumt sie auf das Reinigungsband. Da hört er Alexa mit ihrer klaren Computerstimme in seinem Ohr: »Geschirr abgeräumt. 2 Credits werden dir gutgeschrieben.«

Er verlässt pünktlich das Lehrerzimmer und macht sich auf den Weg zu seinem nächsten Modul. »Alexa, bitte plane heute Abend eine Viertelstunde Freizeit für mich ein.«

Alexa ertönt in seinem Ohr und öffnet seinen Terminkalender vor seinen Augen. »Dein heutiger Abend ist vollständig verplant. Wofür soll ich die Viertelstunde reservieren?«

Thunberg holt Luft, schaut hinter sich, um sicherzustellen, dass Neubauer ihn weder sehen noch hören kann. Dann flüstert er: »Nimm aus dem Block für das Cyber-Sex Forum 15 Minuten und verplane sie anderweitig! Du wirst mir helfen, ein Profil bei der digitalen Neuwelt-Partnerbörse anzulegen.«

 

***

 

Der restliche Tag verläuft für Thunberg genau so, wie er es mit seinem digitalen Assistenten vereinbart hat. Bei seinen Unterrichtseinheiten verdient er seine Credits. In seinen Pausen und Meditations-Modulen tankt er Energie. Am Ende des Tages ist sein Konto um insgesamt 1763 Credits gestiegen. Für einen Lehrer ist das außergewöhnlich viel und nur durch Thunbergs außerordentliches Engagement zu erklären. Die wenigsten seiner Kollegen verdienen mehr als 1000 Credits am Tag. Neider gibt es jedoch keine. Jeder seiner Kollegen kann auf Anfrage durch den Rawls-Algorithmus Auskunft darüber erhalten, wie Thunbergs Mehrverdienst auch zum allgemeinen Mehrverdienst durch die Gesamtwirtschaft in Neuwelt beiträgt. Und es gibt niemanden, der den Rawls-Algorithmus infrage stellen würde. Selbst Thunberg und Neubauer nicht.

 

Es ist 17 Uhr und 58 Minuten. Thunberg steht in seinem Thermoanzug und seiner Schutzmaske verhüllt vor dem maroden Schulgebäude. Die Fassade bröckelt. »Urzeitlich«, denkt er und macht sich auf den Weg zur Nahtransportstation.

Der gelbe Himmel ist von dunklen Wolken bedeckt und schimmert inzwischen blutrot. Starkregen setzt ein. Thunberg kämpft sich durch die Wassermassen. Sein Thermoanzug der dritten Generation ist nicht nur temperaturregulierend, sondern auch wasserabweisend. Wäre er das nicht, wäre es ihm bei diesen Fluten nicht möglich gewesen, zum Präsenzunterricht zu erscheinen. Der Rawls-Algortihmus hat errechnet, dass der Netloss für einen Thermoanzug der dritten Generation für den Geschichtslehrer durch den Netgain seiner Teilhabe ausgeglichen wird. »Gottseidank!«, denkt Thunberg, während er sich durch die strömenden Wassermassen zum Nahtransportwagen durchkämpft.

 

***

 

Zu Hause angekommen warten allerhand Projekte auf den ehrgeizigen Geschichtslehrer. Für seine persönlichen Projekte lässt er seine digitale Assistentin auch seinen kompletten Abend in nutzbare Module einteilen. Nach dem Essen und den Haushalts- und Körperpflegetätigkeiten nimmt er sich Zeit, die für ihn persönlich zusammengestellte Fachliteratur zu lesen, die Hausaufgaben seiner Schüler zu kontrollieren, Schach zu spielen und eine Fremdsprache zu lernen. Am heutigen Abend gibt es jedoch eine Sache, die Thunberg bei all seiner Beschäftigung nicht so recht aus dem Kopf gehen will. Heute Abend wird er sich ein Profil bei der Partnerbörse anlegen. Immer wieder starrt er ungeduldig auf die Anzeige in seinem Blickfeld. Das Schachspiel ist längst verloren, aber die Uhr zeigt erst 19 Uhr und 11 Minuten. Nur noch vier Minuten, denkt Thunberg.

 

Der Turm ist weg, die Dame gefangen und der König steht im Schach. Noch zwei Minuten. An den meisten Tagen hätte Thunberg entweder bis zum bitteren Ende gekämpft oder direkt aufgegeben und ein weiteres Spiel begonnen. Heute starrt er nur auf die Uhr und zählt die Sekunden.

 

Nach einer für Thunberg gefühlten Ewigkeit ist es endlich soweit. Er springt auf: »Alexa, verbinde mich mit der Partnerbörse!«, nimmt auf seiner Couch Platz und lässt die Bilder, die von Alexa in sein Blickfeld projiziert werden, auf sich wirken.

Die Untiefen menschlichen Einfallsreichtums, die sich vor Thunberg eröffnen, sprengen seine Vorstellungskraft. Durch die Rechtsfreiheit des sexuellen Selbstbestimmungsartikels, gepaart mit den technischen Möglichkeiten, die Neuwelt zu bieten hat, sind den Fantasien, Lebensentwürfen und Vorlieben der Menschen im Jahre 64 der neuen Zeitrechnung keine Grenzen mehr gesetzt.

»Alexa, hilf mir zu begreifen, was ich hier vor mir sehe. Ich sehe vor lauter Sandkörnern keine Wüste mehr«, sagt Thunberg verzweifelt zu seiner digitalen Assistentin.

»Sehr gerne! Die digitale Partnerbörse, auch Neuwelt-Partnerbörse genannt, bietet eine Vielzahl an Modulen zur Erfüllung individueller Bedürfnisse nach Beziehung und Intimität. Da es sich durch den Artikel zur sexuellen Selbstbestimmung um einen rechtlich ungebundenen Raum handelt, sind User selbst in der Lage, diesen nach ihren Bedürfnissen zu gestalten und dafür die digitale Struktur von Neuwelt zu nutzen.«

Thunberg seufzt. »Weißt du was, Alexa? Meistens bist du sehr nützlich. Aber dann kommen solche Antworten von dir und man könnte meinen, du stammst aus dem letzten Jahrhundert. Sag mir, was zum Teufel ich machen soll, ich blicke da nicht mehr durch!«

»Entschuldige! Andere User haben in den letzten Jahren, seit es das Gesetz gibt, Programme oder Algorithmen geschrieben, um alle technischen Mittel von Neuwelt für ihre Partnersuche zu nutzen. Wenn du einen Partner suchst, bin ich dir gerne behilflich, das Forum für deine Suche zu verwenden.«

Thunberg verdreht die Augen. »Ich dachte, das wäre eine einfache Partnerbörse. Warum ist da so viel Kram?«

Die Stimme in seinem Ohr: »Ja, es ist eine Partnerbörse. Allerdings musst du beachten, dass dieser Begriff bei über 100 Millionen Usern vielfältig ausgelegt werden kann. Sollen wir ein Profil für dich anlegen?«

»Na gut«, gibt Thunberg zu verstehen.

Der Assistent beginnt damit, Thunberg auszufragen: »Soll ein spezifisches Nutzerprofil für gemeinsame Zukunftspläne, Lebensentwürfe ...«

Thunberg unterbricht ihn. »Nein! In Gottes Namen, das ist ja komplizierter als einfach jemanden auf der Straße anzuquatschen.«

Thunberg schämt sich ein wenig. Es fällt ihm nicht leicht, seine ideale Partnerin vor seiner digitalen Assistentin offen zu beschreiben. Obwohl Alexa kein Mensch ist, haben sie eine Beziehung zueinander. Und es gibt keine Beziehung ohne Scham.

»Soll die Suche ›Partner orientiert‹ oder ›Präferenzen orientiert‹ abgleichen?«, fragt Alexa schließlich.

»Was ist denn der Unterschied?«, fragt Thunberg verdutzt.

»Bei der Partner orientierten Suche werden Metadaten, wie beispielsweise sozioökonomischer Stand, Interessen, Fähigkeiten, Ziele, Humor oder Charaktereigenschaften auf Kompatibilität überprüft. Die Erfolgsquote ist dabei erstaunlich hoch. 93 Prozent aller Paare, die sich für dieses Verfahren entscheiden, bleiben anschließend in ihrer Beziehung. Das Rawls’sche Kalkül ergibt in 98 Prozent der Fälle einen Netgain größer null. Die Lebenszufriedenheit ...«

Da unterbricht Thunberg die Computerstimme in seinem Ohr. Er denkt an Neubauers Worte. Sie war schließlich der Auslöser, weshalb er sich für diesen Schritt entschied. »Nein, das gefällt mir nicht. Die maßgeschneiderte Partnerin sozusagen. Was ist mit der Liebe? Man kann das doch nicht auf reine Zahlen beschränken und den perfekten Partner ausrechnen. Was ist denn das andere? ›Präferenzen orientiert‹?«

Alexa antwortet: »Die ›Präferenzen orientierte‹ Suche wird vom Rawls’schen Kalkül nicht empfohlen. Die Partnersuche wird dabei auf einige wenige nutzerdefinierte Eigenschaften reduziert. Häufig sind dabei weder die Erfolgsquote der Beziehung, noch die Zufriedenheit der beteiligten Parteien, noch der Netgain überzufällig positiv.«

Thunberg kann sein Lachen nicht verkneifen. »Überzufällig positiv? Was soll das denn bitte heißen?«

Die Computerstimme antwortet: »Die Qualität einzelner Merkmale wird mit der Baseline verglichen. Die Baseline ist das theoretisch errechnete Ergebnis zufälliger Zuweisung. Die Zuweisung ist überzufällig positiv, wenn sie besser als eine zufällige Zuweisung ist.«

Darüber muss Thunberg eine Sekunde nachdenken. »Du willst mir damit sagen, dass sich die Menschen, wenn sie selbst entscheiden, schlechter entscheiden, als wenn sie einfach ein Los ziehen würden?«

Alexa antwortet mit einer leichten Verzögerung: »Im Prinzip verstanden ist deine Aussage korrekt. Dennoch ist sie in den Details in Bezug auf den vorliegenden Sachverhalt unterkomplex.«

Thunberg lehnt sich zurück und atmet durch. Er weiß genau, was er will. Er weiß auch, dass es unvernünftig ist. Trotzdem will er es. Er sagt: »Alexa, ich will keine errechnete glückliche Beziehung. Ich will mich zu einer Frau hingezogen fühlen und alle Ecken, Macken und Kanten dazu. Ich will keine perfekte Partnerin, ich will ein Miststück finden, das auch mich will. Und das nicht, weil meine biometrischen Daten oder mein sozioökonomischer Stand zu ihr passen. Ich will mich einfach verlieben.« Thunberg ist erschrocken davon, wie klar und deutlich er diesen Wunsch formuliert hat.

Alexa antwortet: »Ich bin verpflichtet, dich darauf aufmerksam zu machen, dass du für die Erfüllung deines Wunsches nicht die ›Präferenz orientierte‹ Suche verwenden musst. Der Statistik zufolge wird bei einer ›Partner orientierten‹ Suche die offene und ehrliche Kommunikation in einer auf vertrauenbasierten Beziehung gefördert, sodass ...«

Thunberg unterbricht Alexa erneut. »Ich weiß, ich weiß. Wenn ich vernünftig wäre, würde ich es so machen. Dann würde ich mir von dir eine kompatible Partnerin zurechtschneiden lassen, die meinen Humor teilt, mit der ich über meine Interessen schwärmen, mit der ich gemeinsam essen gehen oder kuscheln kann. Ich bin mir sicher, dass man sich auch auf diesem Wege verlieben kann. Bestimmt könntest du mir sogar die genaue Wahrscheinlichkeit nennen, mit der das passiert. Trotzdem will ich den unvernünftigen Weg gehen. Wenn Menschen immer das tun würden, was vernünftig ist, wäre die Welt vermutlich ein besserer Ort. Aber wären es dann wirklich noch Menschen, die sie bewohnen? Lass uns die Präferenzen festlegen.«

Alexa antwortet: »Welche Merkmale möchtest du auf Kompatibilität überprüfen?«

Thunberg lacht wieder. Welche Präferenzen sollte er festlegen. Das eine ist so gut wie das andere. Er beginnt: »Natürlich wäre gut, wenn sie in der Nähe wohnt.« Er denkt nach. »Sie sollte von der Attraktivität in etwa mir entsprechen. Wenn du eine findest, die attraktiver ist, gerne.« Wieder fühlt er die Scham, lässt sich von ihr aber nicht aus der Ruhe bringen. »Tendenziell lieber etwas größer als der weibliche Durchschnitt. Sportliche Figur finde ich auch besser, auch wenn ich einsehe, dass ich da selbst noch an mir arbeiten könnte.« Thunberg beobachtet, wie Alexa seinen Filter an die von ihm genannten Kriterien anpasst. Ihm wird klar, dass er prinzipiell alles fordern und genauso gut übersehen könnte. Wie sollte ein Mensch da entscheiden, fragt er sich selbst. Schließlich sagt er scherzhaft: »Ärsche finde ich prinzipiell wichtiger als Brüste, aber trotzdem besser, wenn beides vorhanden ist.« Er sieht, wie Alexa ohne Widerrede auch diese Präferenz in seinen Filter aufnimmt. Er holt Luft. Schließlich spricht er aus, was er von Anfang an dachte: »Vor allem aber der Sadismus! Der ist am wichtigsten. Ich will die sadistischste Frau, die du in deiner Datenbank finden kannst. Je mehr sie mich demütigen, schlagen und quälen will, desto besser.«

Ein rotes Warnsignal erscheint vor Thunbergs Augen. Alexa spricht in seinem Ohr: »Thunberg 19, ich bin verpflichtet, dich über die Konsequenzen deiner Auswahl aufzuklären. Es ist empfehlenswert für die Erfüllung sexueller Präferenzen auf eine auf vertrauenbasierte Beziehung ...«

Thunberg unterbricht sie wieder: »Gibt es eine Frau, die auf meine bisherige Beschreibung passt?«, fragt er schnell.

Alexa benötigt einige Sekunden für ihre Suche. Dann landet sie ihren ersten Treffer. »Alley 2, weiblich, 29 Jahre alt. Eure Präferenzen scheinen für ein Kennenlernen übereinzustimmen.«

Thunberg könnte schwören, dass er eine gewisse Gleichgültigkeit in Alexas Stimme erkennt. »Was muss ich tun?«, fragt er.

»Alley 2 hat auf ihrem Profil eine offene Kontaktanfrage für ein persönliches Treffen hinterlegt. Möchtest du mit ihr ein Treffen vereinbaren?«, antwortet ihm Alexa.

»Gerne!«, antwortet er hastig. Thunberg schaut auf seine Uhr. Es ist 19 Uhr und 29 Minuten. Sein 15-minütiger Block für die Partnersuche ist zu Ende und er hat sein erstes Date.

 

***

 

Die Aufregung und die Antizipation über das kommende Treffen mit Alley 2 sind an Thunberg auch sexuell nicht spurlos vorübergezogen. Nicht grundlos hat er die Partnerbörse in seine abendlichen 30 Minuten geschoben. Es ist 19 Uhr und 30 Minuten. Thunberg beginnt sich auszuziehen. »Alexa, bitte öffne das Cyber-Porn Forum von Neuwelt. Mein Ordner, BDSM - Femdom.«

Der Raum dunkelt sich ab. Thunberg holt einen eigentümlich anmutenden Gurt aus seinem Nachttisch und legt ihn um seine Taille. Vier manschettenartige Schleifen sind mit dünnen Kabeln daran verbunden. Er legt sie akribisch und routiniert an seinen linken und rechten Unterarm, sowie den linken und rechten Knöchel.

Jetzt wird die Geschichte heiß!

Natürlich ist die Geschichte nicht an dieser Stelle zuende. Im Gegenteil: Ab hier geht es zur Sache. Darum dürfen wir dir die weitere Handlung im Moment nicht frei zugänglich machen. Wir bitten dich um Verständnis, dass wir den Jugendschutz ernst nehmen.

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Kommentare von Leserinnen und Lesern

Obscurius Optissimus

Autor. Förderer.

03.01.2025 um 19:41 Uhr

Hallo Sklave Thorsten, Hallo Meister Y!

 

Ich danke euch für euer Interesse an meiner doch sehr langen und, wie ihr geschrieben habt, dunklen Geschichte.

 

Für eure Bereitschaft sie trotz ihrer Länge und ihres vielleicht etwas ungenießbaren Inhalts komplett zu lesen, danke ich euch! An euren Kommentaren sehe ich, dass ihr euch wirklich auf die Geschichte eingelassen habt, obwohl sie schwer verdaulich war. Das ist für mich sehr wertvoll.

 

Den Hinweis, Meister Y, dass weniger hier mehr gewesen wäre, nehme ich an. 

 

Sie ist eine der ersten Texte, die ich bei den Schattenzeilen eingereicht habe. Rückblickend würde ich viele Dinge anders machen, damit sie genießbarer, angenehmer zu lesen ist. 

 

Allerdings musste ich sie erst so schreiben, um zu wissen, wie es vielleicht anders/besser geht. 

("Hätte ich es nicht gewagt, hätte ich es nicht gewusst" ;)  

 

An dieser Stelle auch nochmal ein Dankeschön an Nachtasou für das Lektorat. Habe im Prozess viel gelernt.

 

Bis zur nächsten Geschichte ;)

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02.01.2025 um 05:40 Uhr

Hallo Obscurius Optissimus

 

Was für ein dunkles Szenario hast Du dir da in deiner Phantasie ausgemalt?

 

Das ist wirklich Beängstigend und auch ich sehe da wenn es auch nur eine fiktive Geschichte ist, diverse parallelen zur Wirklichkeit.

 

Ist es doch so, dass wir durchgetacktet den Tag planen. Mit der Uhr sprechen, manche auch schon mit der Brille.

Es gibt ja auch eine Alexa, dessen Marktposition erheblich ist.

Wir streben nach der perfekten Liebe, manche verwechseln Phantasie mit der Realität.  Können kaum eine Beziehung führen. Das erkenne ich in deiner Geschichte wenn auch extrem dargestellt, auch.

 

Ich muss aber auch gestehen das es mir wie Meister Y erging, das ich mich etwa bis zum Abschnitt mit Alley immer wieder ermahnen musste weiter zu lesen.

 

Denn schließlich hast Du dir Zeit genommen, dir die Geschichte auszudenken, niederzuschreiben und hier zu veröffentlichen. Da sollte man dann auch mit Respekt und Anstand jedes Wort, jede Zeile, lesen.

 

Wie gesagt, bis zum Abschnitt mit Alley war es schwer immer weiter zu lesen, da es sehr durchgeplant und teilweise auch sehr abstrakt war.

Gerade auch der Punkt als Thunberg am Abend CyberSex hatte, fand ich es schon sehr komisch.

 

Ich danke Dir für diese Geschichte, es war im Endeffekt großartig diese zu lesen. Es macht nachdenklich was den Umgang mit Medien und dem konsum von Gütern angeht aber vor allem was den Umgang mit unserer Umwelt angeht.

Danke Dir.

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Meister Y

Autor. Förderer.

01.01.2025 um 15:41 Uhr

geändert am 01.01.2025 um 15:43 Uhr

Hallo Obscurius Optissimus,

Du malst da aber wirklich ein, dunkles, furchteinflößendes Klimakatastrophenszenario und so ganz tief in mir drin, ist ein bisschen die Angst, dass Du recht haben könntest.

Ich bin ein großer Science Fiction Fan und war deswegen nach der Ankündigung gespannt auf die Geschichte. Ich muss aber gestehen, dass ich mich noch vor der Hälfte wirklich zwingen musste, weiter und bis zum Ende zu lesen. 

Mir war das zu viel durchorganisierter Tagesablauf, zu viel Algorithmus, zu viel düsteres Szenario. Ein wenig hat mich zwar seine vollkommene Abhängigkeit von der virtuellen Welt mitgenommen, dann haben mich aber wieder die nüchternen Bemerkungen von Alexa zurückgeholt.

Das Ende war es dann, was mich ein bisschen versöhnt hat. Das Wissen, dass am Schluss Menschlichkeit über Virtualität siegt, dass er sich ihr und nicht mehr allein seinen virtuellen Wünschen hingibt.

Danke für eine Geschichte zum Neujahrsnachmittagskaffee bei der, aus meinem Empfinden, weniger mehr gewesen wäre.

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