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Was dich treibt

Madame Sybille. Beim Betrachten ihrer Anzeige war vieles hochgekommen, seine jahrelangen Sehnsüchte, seine wilden Fantasien, seine Erregung. Die Tür, durch die er hier eintreten würde, war lauernd, drohte mit einem Eintritt ohne Zurück. Sollte er wirklich?

Eine BDSM-Geschichte von poet.

  • Info: Veröffentlicht am 15.10.2021 in der Rubrik BDSM.

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Platz 1 im »Schreibwettbewerb: Missverständnis«.

 

Beim Frühstück klappte er wie gewohnt den Laptop auf und tippte auf das Icon seines Browsers. Schnell poppte die Startseite hoch mit all den Werbeanzeigen unter der Eingabeleiste. Als er schon »www.t-online.de« getippt hatte, um zu seinen Emails zu gelangen, fiel sein Augenmerk auf eine kleinere Anzeige am rechten Bildschirmrand, die ihn regelrecht anzuspringen schien.

»Du bringst mir, was dich treibt, und triffst auf mein Verständnis.« So hieß es da. Und: »Du bleibst natürlich anonym. Du erhältst meine Anweisungen, und wenn du klug bist, wirst du sie befolgen. Und ich wette, du wirst zu weiteren Behandlungen kommen, denn niemand wird dir so geben, was du brauchst, wie ich! Ich werde dein Inneres nach außen stülpen und dir aufzeigen, worin deine wahre Bestimmung im Leben liegt!«

Darüber das Portrait einer ernst schauenden, elegant gekleideten knapp vierzigjährigen Frau mit schulterlangem, schwarzem Haar. Die Überschrift lautete: »Madame Sybille - ich weiß es!« Eine Mobilfunknummer.

Die dunklen Pupillen schienen ihn zu fixieren.

Es folgten unten noch einige Worte in kleinerer Schrift, von denen seine Augen aber weggesogen wurden zu dem Foto, von dem Blick, diesem fragenden, wissenden, befehlenden Blick.

 

In der U-Bahn zog er sein Smartphone aus der Tasche und tippte zielgerichtet darauf herum. Schließlich fand er sie wieder: »Du bringst mir, was dich treibt ...«

Da war ihr Bild wieder. Selbst im kleineren Format des Handys verfolgten ihn die dunklen Augen. Er zoomte. Meine Güte, jetzt habe ich es getan, dachte er, was kommt jetzt?

 

Er hatte lange gezögert. Natürlich war beim Betrachten des Fotos sofort vieles hochgekommen,  seine jahrelangen Sehnsüchte, seine wilden Fantasien, seine Erregung, das Teil, das sein Geschlecht definierte. Sein Mund war ausgetrocknet gewesen. Mehrmals hatte er sein Smartphone in die Hand genommen, wieder weggelegt. Versucht, sich mit anderen Dingen abzulenken. Google, Youtube. Ein Spiel begonnen, abgebrochen. War wieder darauf zurückgekommen. Hatte beschlossen, erst einmal eine Nacht darüber zu schlafen. Aber dann hatte er doch gleich angerufen. Das Herz in seinem Hals hatte um so vieles schneller geklopft als die Klingelzeichen im Telefon kamen. Besetzt! Kurzes Aufatmen. Sollte er wirklich? Die Tür, durch die er hier eintreten wollte, war lauernd, drohte mit einem Eintritt ohne Zurück. Noch konnte er sie auch nicht öffnen, konnte - konnte er wirklich? Fast ohne sein Wollen hatte sein Finger die Wiederholtaste getippt.

»Hallo?« hatte sich eine sehr sympathisch klingende Frauenstimme gemeldet. Seine Hand hatte gezittert, als er das Handy ans Ohr gepresst hatte.

»Na, wer ist denn da bitte?«

»Ja, also hier, hier ist Jürgen.«

»Fein, Jürgen. Du klingst noch sehr jung?«

»Zwanzig.«

»Aha, und wann bist du das geworden?«

»Vor vier Monaten.«

»Sehr schön, Jürgen, und nun möchtest du zu mir kommen?«

»Also ich habe Ihre Anzeige - im Internet ...«

»Prima, Jürgen. Ich merke schon, es treibt dich etwas, eine innere Kraft, die du nicht beherrschen kannst - richtig?«

»Ja, ich meine, ja, das stimmt irgendwie, Miss ...«

»Ich bin Madame Sybille. Nenn mich einfach Madame.«

»Gerne, Madame. Selbstverständlich!«

»Du scheinst ein wenig schüchtern zu sein, Jürgen?«

»Nun, ich, äh ...«

»Dein Sternbild ist Fische, oder?«

»Ja, tatsächlich, woher - «

»Du kommst mir so sensibel vor. Wann hättest du denn Zeit, mich zu besuchen, Jürgen?«

»Ich, also es sind ja gerade Semesterferien, da habe ich eigentlich fast immer ...«

»Sehr schön, Jürgen. Warum kommst du dann nicht gleich heute? Sagen wir um vier Uhr?«

Er hatte seine Halsschlagadern gespürt, den rasenden Puls.

»Gleich heute? Wenn, also wenn Sie meinen, Madame?«

»Ich meine. Hör zu: Du kommst in mein Studio in der Gartenstraße 100 in Haar. Du weißt doch, wo Haar ist?«

»Ja, Madame, in etwa, Osten, da gleich nach Riem wo. Da ist doch die Klapsmü - Entschuldigung, das Bezirkskrankenhaus?«

»Clever, Jürgen!«, hatte sie kurz gelacht, »Aber komm erst mal zu mir! Du nimmst die S4. Von der Haltestelle sind es nur knapp fünf Minuten Weg. Sieh es dir auf dem Stadtplan an! Gartenstraße 100, du findest das?«

 

Er hätte es gefunden, selbst wenn es auf dem Mond gewesen wäre. Da war ein Magnet, der ihn zog, ein Kompass, dessen Nadel nur in die eine Richtung zeigte. Und so saß er nun in der U3 zum Marienplatz und fuhr seinen Fantasien entgegen.

Du bringst mir, was dich treibt ...

Bonner Platz, kam die Durchsage.

Erst? Mann, die U-Bahn fuhr doch sonst nicht so langsam! Wie würde sie ihn empfangen? Wie würde sie aussehen? Seidenbluse und geschlitzter Lederrock? Overknees? Oder langes, rotes Samtkleid? Handschuhe bis über die Ellenbogen? Highheels natürlich, Bleistiftabsätze. Egal, riss er sich zurück, sie muss nicht deine Traumbilder darstellen, du hast eine Herrin zu akzeptieren, wie sie ist, selbst wenn sie dir erst mal in Jeans die Tür aufmacht. Obwohl, geil wäre es schon, wenn.

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Kommentare von Leserinnen und Lesern

25761

Gelöscht.

20.12.2021 um 00:30 Uhr

Eine großartige Story, fast bis zum Schluss! Das Ende fand ich enttäuschend, obwohl witzig. Bis dahin war der Spannungsaufbau allerdings erstklassig. Wer jemals eine Herrin besucht hat, kann gut nachvollziehen, was sich bei Jürgen im Kopf aufgebaut hat...

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26040

Gelöscht.

25.11.2021 um 23:46 Uhr

Nichts Genaues weiß man nicht! Wer lesen kann, komplett bis zum Ende, wird klüger. Wir hätten dann allerdings nie erfahren was es alles für Klischees, Halbwahrheiten, Erwartungshaltungen und unbefriedigte Wünsche im Hirn eines Zwanzigjährigen gibt. Die Enttäuschung mag groß sein, aber Geld kann er auch da loswerden. Ob die zu erwartende Gegenleistung adäquat ist? Man weiß es nicht. Zukunft aus Händen und Sternen vorherzusagen erfordert ähnliche Beobachtungsgabe, Menschenkenntnis und Intuition wie sie eine Domina braucht. Beide leben von den Illusionen ihrer Kunden. Die Geschichte gefällt mir, gute Idee, gute Sprache und in sich schlüssig. Danke

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Xentaur

Autor.

04.11.2021 um 17:50 Uhr

Einerseits ist die Geschichte witzig und detailreich wie sich der junge Mann von Station zu Station überlegt was die Domina wohl mit ihm macht.

Aber machen Astrologinnen wirklich sooo Werbung?

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Fremde Angst

Autor.

28.10.2021 um 17:12 Uhr

Großartig! Dein Stil gefällt mir, Du hast mich richtig mitgerissen, ich verschmolz mit der Figur, und die Pointe ist spitze, auch wenn ich etwas Ähnliches schon geahnt hatte.

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Nachtasou

Autor. Korrektor.

21.10.2021 um 00:07 Uhr

Mir gefällt handwerklich so einiges an der Geschichte. Das Rattern der Gedanken über den Rädern der Straßenbahn, das Tempo, das sich dabei ergibt. Einerseits die für den jungen Mann sich in der Eigenwahrnehmung quälend langsam hinziehende Fahrt, demgegenüber mein schnelles Lesen; irgendwie war ich getrieben. Von der Lesegeduld her hätten es gern zwei Stationen weniger sein können, aber genau diese Ungeduld deckt sich ja mit dem Inhalt der Geschichte. Also, das Spiel mit der Zeit in der Geschichte erzeugt "Suspension", und ist ein Beleg dafür, dass sie funktioniert auch ohne überraschende Pointe. Pointen gehören ins Kabarett. Das Klingelschild am Ende ist dann gut genug, um auch dieses zu bedienen. Und so nebenbei erhalten wir ein ziemlich vollständiges Perversogramm eines jungen Mannes, dem die Triebe das Hirn hochjubeln. Und das so herzig, dass man fast Mitleid bekommt.

Ich find, er sollte jetzt auch klingeln und die Gelegenheit nicht auslassen, sich seine Zukunft weissagen zu lassen *g. Für diese Prognosen muss die Dame nicht mal über wirklich übersinnliche Begabungen verfügen.

 

Übrigens, auch Poets Profiltext ist mehr als lesbar. Und erklärt auch, warum dieser junge Mann in der Geschichte nicht vorgeführt wird. Fehlleistungen ja, Allzumenschliches ja, aber keine Bloßstellung. Diese Gratwanderung ist in dieser Geschichte unternommen worden.

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27764

Gelöscht.

19.10.2021 um 13:11 Uhr

Ein wunderschönes Werk, Poet!

Es war spürbar, wie sich die Erwartung weiter und weiter aufgebaut hat.

Die Geschichte steht zu Recht auf dem 1. Platz.

LG Gunner

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27072

Gelöscht.

19.10.2021 um 03:27 Uhr

Wirklich schön geschrieben. Danke für die gelungene Geschichte.

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18.10.2021 um 23:15 Uhr

Sehr schöne Geschichte mit einem sehr guten Ende. Danke!!

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Queeny

Förderer.

15.10.2021 um 23:36 Uhr

Habe mich beim Lesen köstiich Amüsiert und schmunzle noch immer!

Herzlichen Dank dafür!

Gratulation zum verdienten 1.Platz!

 

Grüße Queeny

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Sophie Amalia

Autorin.

15.10.2021 um 17:46 Uhr

Wirklich wunderbare Geschichte, welche mich innerlich triumphieren ließ. Denn ich persönlich erfreue mich gern daran mit welch einfachen und harmlosen Sätzen man es schafft jemanden nervös zu machen oder ein enormes Kopfkino auszulösen. Ganz ohne Aufwand. Aber nicht nur deshalb hab ich es sehr gern gelesen.

Zunehmend tat er mir aber sogar fast leid, denn irgendeine Enttäuschung musste es ja leider geben für ihn. Das Klingelschild - einfach herrlich.

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