Die Frage ist, ob der Leser wirklich alle Gedanken des Protagonisten kennen muss? Werden sie dem Leser nicht rein instinktiv klar, wenn man stattdessen beschreibt, wohin die Augen gerichtet sind, welchen Körperteil die Fingerspitzen zuerst berühren, wie der Gesichtsausdruck ist? Das Ganze unterstützt durch sparsame Hinweise, kurze Dialoge, aktive Handlung.
Ähnliches kann ich mir auch bei der Beschreibung des Autounfalls vorstellen. Statt alle Möglichkeiten genau zu analysieren, würden auch kurze Stichpunkte reichen (in den Gegenverkehr steuern, rechts in die Büsche, voll auf die Unfallstelle, aufblitzende Gedanken an die Familie, Abschätzung, wer im Wagen vor einem sitzen könnte ...). Den Rest der Analyse erledigt der (hoffentlich) vernunftbegabte Leser ganz alleine. Es hat sogar noch den Vorteil, dass der Leser die Szene weniger von außen betrachtet, sondern sich in den Protagonisten hineinversetzt und ihm somit sehr nah kommt.
Möchte man dennoch die Gedankenwelt ausführlicher beschreiben, würde ich sie unbedingt immer durch Handlung unterbrechen.
15.05.2019 um 14:13 Uhr
geändert am 15.05.2019 um 14:15 Uhr
Auch wenn ich mich in meiner Vorstellung eher distanziert geäußert habe, ist es ja nicht so, daß ich nicht auch mal schreiben würde. Allerdings ist dieses dann nicht für die Öffentlichkeit sondern für mich selber oder eine einzelne Person gedacht. Zumal ich mich lieber als Geschichtenerzähler denn als Schriftsteller sehe. Das gesprochene Wort ist flüchtiger und berührt eher das Herz der Hörerschaft, denn das geschriebene Wort. Letzteres wird durch den Akt des Lesens und der Wiederholbarkeit doch zu oft durch das scharfe Messer des Verstandes seziert, denn vom Herzen in seiner Gänze erfasst.
Aber genug der Vorrede:
Sehr oft erlebe ich es, daß Situationen in mir eine Flut an Gedanken, Assozioationen und Gefühlen auslösen, die für mich später nur schwer auf Papier (oder Tastatur) wiederzugeben sind.
Zur Veranschaulichung zwei Beispiele:
Ein Autounfall im Straßenverkehr. Knapp 50 Meter Abstand beim Erkennen des Hindernisses und einer Geschwindigkeit von ca 50 km/h haben mir später verraten, daß ich knapp 4 Sekunden Zeit hatte um die Situation zu erfassen, verschiedene Möglichkeiten des Vermeidens im Kopf durchzuspielen und schlußendlich nicht nur eine Entscheidung zu treffen, sondern die auch noch durchzuführen ...
Da die physische Durchführung sicherlich die Hälfte der verbliebenen Zeit beanspruchte, gehe ich für die "Gedankenarbeit" mal von 2 Sekunden aus. Das Ereignis (für ich) dann aber zu Papier zu bringen hat durchaus fast zwei Din A4 Seiten gefüllt. - Für eine Geschichte in der dieser Moment ja rasant und spannend sein soll, definitiv zu lang - obwohl ich das Gefühl hatte, bei weitem noch nicht alles "erzählt" zu haben.
Ähnlich sieht es bei (guten) BDSM Szenen aus:
In dem Moment der ersten Berührung, der Bewunderung des weiblichen Körper, der Hingabe und Verletzlichkeit, durchstömen mich so viele Gedanken und Gefühle, daß diese in einer Geschichte eher ... langweilig werden, anstatt die majestätische Größe des Momentes darzustellen.
Die Balance zwischen dem Volumen der in kurzer Zeit auftretenden Gefühle und Gedanken und der Zeit die ein Leser -bzw. Leserin- für dieselbe braucht ist ... (für mich) schwierig. Die Großen unter den Schriftstellern schaffen es fast skizzengleich alles wichtige zu sagen und den Rest den Assoziationen und Erfahrungen des Lesers zu überlassen.
Welche Methoden und Techniken habt Ihr um Euch diesem Punkt anzunähern?
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