Darf ich Euch eine kleine Geschichte erzählen, damit meine Emotion ein wenig verständlicher wird?
Im Jahr 2012 schrieb ich in einem nächtlichen Flash eine Erzählung. Ich aß nicht, trank nicht, rauchte nicht. Ich glaube, ich bin nicht einmal in dieser Nacht aufgestanden und zur Toilette gegangen. Als ich am nächsten Morgen wieder zu mir kam, saß ich vor einer Novelle, die so voller Kraft und Inhalt war, dass ich wusste, dass ich einen ganzen Roman auf dreiundfünfzig Seiten komprimiert hatte. Einen Roman, wie er noch nie geschrieben worden war. Auf einen Satz komprimiert: Edmund Dantes trifft „Die stummen Götter“ und erlebt als Jason Bourne sein „Solaris“.
Ich wollte nie einen Roman schreiben. Viel zu aufwendig, zu kompliziert, zu langatmig und richtig harte Arbeit. Doch es ließ mich nicht los. Zwei Jahre habe ich gearbeitet wie ein Verrückter und als er 2014 fertig war, hatte er vier sich kreuzende Erzählstränge, fünf Perspektiven,12 Hauptprotagonisten und 1132 Seiten. Doch die Fäden passten nicht zusammen, die Perspektiven stimmten nicht und die Charaktere entsprachen nicht ihrer Rolle. Es war langatmige Arbeit, ihn zu lesen. Ich war maßlos enttäuscht. Ich hatte einen Diamanten aus der Erde gegraben und statt daraus einen Brillanten zu schleifen, war es nichts weiter als ein Stück Kohle geworden.
Die nächsten Monate verbrachte ich nahezu in Verzweiflung und das ist nicht nur so dahingesagt. Irgendwann biss sich dann mein Charakter durch, der Aufgeben nicht kennt. Ich las Schreibratgeber ohne Ende (nur um sie dann frustriert wieder in die Ecke zu feuern), besuchte Online-Seminare in Creative Writing (um mich zu fragen, was die da für einen Scheiß -sorry- erzählen). Doch je mehr ich über das Schreiben lernte, um so mehr begriff ich, wie wenig ich tatsächlich wusste. Der Berg wurde immer größer.
Dann kam der Tag, an dem mich in einem anderen Forum ein gewisser Antagar zu einem Online-Schachspiel einlud. Wir kamen ins Reden und irgendwann stellte sich heraus, dass dieser Mann Heinz Körner, der Autor von „Johannes“, war. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung und er stellte mir eine simple Frage: „Warum funkelt ein Brillant?“
Auf mein Gestammel sagte er: „Weil der Diamantenschleifer alles Überflüssige weggenommen hat. Er hat ihn sich tausendmal angesehen, ihn einhundert Mal eingespannt, zehnmal geschliffen und am Ende ist ein Meisterwerk herausgekommen. Weil der Schleifer alles wusste, was es über Diamanten zu wissen gibt; weil er geschliffen hat, um den Diamanten zum Funkeln zu bringen, nicht sein Ego und weil er wusste, dass ein Händler zwar den Wert des Brillanten nach Karat misst, aber die, die ihn betrachten, sein Funkeln in der Seele spüren. Es kommt auf das Funkeln an, nicht auf den Wert.“
Ich setzte mich also wieder ran. 2020 war die zweite Version fertig, diesmal nur noch siebenhundert Seiten, aber kurz vor Schluss wusste ich bereits, dass ich noch einmal von vorn beginnen musste, denn all das, was ich an Wissen aufgesammelt und eigentlich abgelehnt hatte, hatte in meinem Unterbewusstsein weitergearbeitet und dafür gesorgt, dass ich fühlen konnte, wann ich Regeln beachten musste und wann ich sie mit voller Absicht zu brechen hatte.
Ein drittes Mal begann ich 2021 und mittlerweile sagt eine Freundin, die Literatur studiert hat und alles andere als eine Lobhudlerin ist, dass ihn zu lesen ist, wie in einem Ferrari einen Bergpass hinauf zu jagen: Man schnallt sich besser an. Dabei hat er immer noch 4 Erzählstränge, fünf Perspektiven, beginnt 1979 und endet 2035. Nur, dass man sie nicht mehr sieht, nicht liest, nicht spürt. Sie sind verwoben zu einem harmonischen Ganzen, in dem nur noch eines zählt: der Lesefluss, die knisternde Spannung, das Tempo, aber auch die besinnlichen Momente, in denen die Seele zu ihrem Recht kommt. In ein paar Monaten wird er wohl fertig sein und dann ca. 450 Seiten haben, ohne dass auch nur das Mindeste aus den über eintausend Seiten der Erstversion verloren gegangen ist. Ich weiß nicht, was ich danach machen werde. Ein bisschen Angst habe ich schon vor dem Wort „Ende“, denn es schließt fünfzehn verrückte Jahre ab. Was soll ich danach tun? Ich wollte nie einen Roman schreiben ...
Warum erzähle ich das so ausführlich? Weil ich mich schäme für meine heftige Reaktion auf Gregors Post. Ich hatte die Lektion von Heinz Körner vergessen: „Es kommt darauf an, den Diamanten zum Funkeln zu bringen, nicht das Ego.“
Mein Ego war der Ansicht, der Post von Gregor würde meine Besessenheit an diesem Projekt negieren, meine unendlich Mühe, die ich hineingesteckt habe. Vielleicht auch die Furcht davor, dass jemand anders Diamanten zum Funkeln bringen könnte, ohne so viel Mühe aufzuwenden wie ich und mich damit um die Früchte derselben betrügen würde. Was für ein Blödsinn! Aber so sind Gefühle, nicht wahr? Sie kommen und gehen, wie sie wollen.
Also, lieber Gregor, ich entschuldige mich bei dir für meine harten Worte. Sie waren nicht in Ordnung.
Und jetzt ... muss ich wieder ein bisschen Diamanten schleifen.
TT