So, ich habe mir heute mal eine Auszeit genommen und das kam dabei raus:
Erst am dritten Tag nach ihrer Ankunft auf der Insel waren sie wirklich angekommen. Obwohl oder vielleicht gerade weil sie erst später als in den Vorjahren ihren Urlaub antreten konnten. Berufliche, vor allem aber private Turbulenzen hatten Annika und Boris die Abreise immer wieder verschieben lassen.
Annika empfand es als ausgesprochenen Luxus, dass ihre Schwester das kleine Haus nicht an Fremde vermietete, denn so brauchten sie sich wegen dessen Belegung keine Gedanken zu machen. Den Elbtunnel hatten sie schneller passiert als in all den Jahren zuvor.
In den ersten beiden Tagen waren sie nicht nur wie sonst mit dem Einrichten beschäftigt, einem Ritual wie dem obligatorischen ersten Besuch eines Fischimbisses und dem Überqueren der Dünen auf den Bohlenwegen hin zum Meer. Beide mussten für sich auch die Ereignisse der letzten Monate hinter sich lassen. Bei Boris waren es eher berufliche Dinge gewesen: Unter anderem war ein sicher geglaubtes größeres Projekt war kurzfristig geplatzt. Annika wurde nicht nur in ihrer kleinen Versicherungsagentur ständig gefordert, sondern musste privat mit Rat und Tat an so vielen Ecken helfend zur Hand gehen, dass sie selbst sich darin beinahe verlor.
Aber eben nur beinahe, denn Annika und Boris teilten ihre Sorgen, wie Bett und Tisch. Liebevoll und fürsorglich. Glücklich. Wie gut, dass sie einander hatten. Vor jedem Einschlafen und nach jedem Aufwachen war dies ein Gedanke. Sie würden auch diese Turbulenzen überstehen, die ihnen Energien raubten, die sie lieber für sich aufgewendet hätten.
Nun erst einmal Urlaub. Am dritten Tag zeigte sich der Himmel über der Nordsee von seiner spektakulärsten Seite. Weiße und graue Wolken schoben sich immer wieder vor die Sonne und sorgten im Zusammenspiel mit ihr und dem Wasser für ein einzigartiges Licht.
Annika und Boris umwanderten die nördliche Inselspitze zunächst auf der Wattseite. Die Spuren des ermüdenden Alltags waren erster Sonnenbräune in ihren Gesichtern gewichen. Schuhe und Strümpfe waren im Rucksack verstaut und ausgelassen zogen sie beinahe mit tänzelnden Schritten durch den Schlick.
Liebevoll beobachtete Annika ihren Mann. Liebevoll, wie es nach einer so langjährigen Beziehung leider nicht selbstverständlich war, wie ihr die vergangenen Monate mit zahlreichen Trennungen und Scheidungskriegen im Freundes- und Bekanntenkreis gezeigt hatten. Daran wollte sie jetzt aber nicht denken, sondern sich daran freuen, dass sie und Boris den vielen gemeinsamen Jahren zum Trotz glücklich miteinander waren. Der waren sie es wegen dieser gemeinsamen Jahre?
Kaum hatten sie sich kennengelernt, da waren sie rasch und heftig ineinander verliebt, schnell hatten sie ihre sich ergänzenden Neigungen entdeckt und intensiv miteinander ausgelebt. Spiele um Dominanz und Unterwerfung und Schmerz. Diese Spiele hatten immer eine Bedeutung in ihrem Zusammenleben. Dabei spielten sie nicht fortwährend. Es hatte immer wieder Phasen gegeben, in denen sie sich kurze Geschichten oder Briefe schrieben, die zeigten: Es ist noch da. Es ruht vielleicht, aber es ist noch da. Im letzten halben Jahr war dies erstmals ausgeblieben. Weder spielten sie noch schrieben sie. Die Leidenschaften schienen verschüttet. Annika sah Boris an. Er sah so gut aus – immer noch, nein: immer noch besser sah er aus – mit all den Jahren. Kurz vor dem Urlaub hatte sie mit einer Freundin telefoniert und beide hatten festgestellt, dass ihre Männer sich geradezu unverschämt gut hielten, während sie selbst sich der Wirkstoffe aus verschiedenen Tiegeln und Tuben bedienten, um einen strahlenderen Teint zu bekommen. Dabei ginge nichts, wirklich nichts über das Strahlen in den noch immer verliebten Augen, so hatte es der Mann ihrer Freundin ausgedrückt, am besten noch mit einem entrückt-erregten Blick, der kenne kein Alter.
Darüber dachte Annika nun nach. Und mit einem Mal packte sie ein derartiges Verlangen danach, sich wieder in einem Spiel zu spüren, so zu spüren, wie nur Boris sie sich spüren lassen konnte. Körperlicher Schmerz, zugefügt aus seiner Hand, danach sehnte sich, um die letzten Wochen und Monate hinter sich zu lassen. Die verschüttete Leidenschaft hervorzuholen. Diesen Schmerz wollte sie spüren. Nicht den Liebeskummer und das Trennungsleid ihrer Freunde. Ihren eigenen, den so geliebten, geilen, vermissten Schmerz. Schmerz, wie Nadelstiche im Takt des Fünften Rachmaninoff‘schen Préludes.
Scharf atmete sie die salzhaltige Luft ein. Boris war zu ihr gekommen. Als spürte er, wie es um sie bestellt war. Er war ein guter Beobachter, unerlässlich für seine Rolle in ihren gemeinsamen Spielen. Diese Beobachtungsgabe hatte sich so oft bewährt. Auch jetzt? Ihr Mann blickte Annika an und sie senkte den Blick.
Sie sprachen nicht mehr viel auf ihrer Wanderung. Längst hatten sie den feinen Sandstrand erreicht und die Brandung hatte die Schlickspritzer von ihren Beinen gespült. Vollschlammbambert, so hätte ihre Tochter die Beine genannt, kam es Annika in den Sinn. Das Wort stammte aus einem Kinderbuch, aus dem sie ihr wieder und wieder vorgelesen hatte, eine Wolfsgeschichte. Wie lange war das her? Nun stand ihre Kleine auf eigenen Beinen im Leben mit seiner ganzen Vielfalt, nicht nur im Schlick, wenn sie selbst einmal die Insel besuchte.
Es war nur ein kurzer Blick in die Vergangenheit, dann war Annika wieder im Hier und Jetzt, am Strand bei und mit Boris.
Sie hielten sich an den Händen. Das taten sie oft, auch wenn sie zu Hause spazieren gingen oder durch die Altstadtgassen ihrer Heimatstadt bummelten. Nun aber war Boris‘ Händedruck anders, nicht einfach fester, das gar nicht. Bestimmender. Mehr noch. Beherrschend. Viel mehr noch. Verheißungsvoll.
Er schickte Annika voraus zum Haus, als sie wieder im Ort angekommen waren, weil er noch ein paar Dinge besorgen wollte. Sie sollte sich ausruhen und für den Abend zurechtmachen. Küche und Essecke seien ab dem Zeitpunkt tabu, ab dem er nachkomme, er wollte sie mit dem Abendessen überraschen.
Sie folgte. Nahm ein Bad und legte sich in den Garten auf einen Liegestuhl, neben sich ein Tablett mit Tee, und genoss die letzten Sonnenstrahlen.
Später holte Boris sie ins Haus. Er hatte den Tisch gedeckt und Kerzen angezündet. Auf Platten und in Schalen waren appetitliche Sachen angerichtet: Spargelsalat mit Ei und Kresse – wo immer der Spargel um diese Jahreszeit herkam – , verschiedene Fisch- und Meeresfrüchtespezialitäten, Käse und Obst. Stoffservietten in silbernen Ringen und das passende Besteck verliehen dem ganzen einen noch edleren Glanz.
Annika sah den Kochlöffel. Da die Küche kalt geblieben war, würde dieser heute Abend wohl noch eine ganz besondere Rolle spielen. Und Boris mit ihr ein ganz besonderes Spiel.